Interaktive Unterhaltung: Ein Gefühl von Macht

Mitmachen ohne mitzuspielen: Immer öfter können Zuschauer:innen die Handlung von Filmen und Serien aktiv beeinflussen.

Ellie Kemper (Kimmy Schmidt) und Daniel Radcliffe (Frederick) sitzen neben einem Rucksack mit Gesicht

Ellie Kemper (Kimmy Schmidt) und Daniel Radcliffe (Frederick) in „Kimmy Schmidt vs. The Reverend“ Foto: Eric Liebowitz/Netflix

Welches Brautkleid soll ich auf meiner Hochzeit tragen? Oder wahlweise auch: Soll ich meinen Vater umbringen? Zuschauer:innen interaktiver Filme treffen kleine und große Entscheidungen über den Ablauf der Geschichte und werden so eingebunden.

Interaktive Filme sind im Grunde Videospiele. Die Entwicklung der Laserdisk-Technologie 1961 ermöglichte eine interaktive Steuerung im Spiel. Der Weltraum-Railshooter „Astron Belt“ (Sega) und das Actionspiel „Dragon’s Lair“ (Bluth Group) aus 1983 sind die ersten Beispiele des Genres.

Interaktives Storytelling ist darüberhinaus eine Literaturgattung, etwa die „Choose Your Own Adventure“-Bücherreihe für Jugendliche, die in den 1970er und 80er Jahren sehr beliebt war, mit einer Verkaufsauflage von 265 Millionen Exemplaren. Aber auch die Bühne kann interaktiv sein. Die Theatergruppe Signa produziert etwa nur interaktive Stücke, die die aktuellen moralischen Debatten der Zeit darstellen sollen. Das Wort „interaktiv“ setzt hierbei eine Handlung der Konsumierenden voraus: Damit die Geschichte weitergehen kann, muss meist eine Reaktion oder eine Entscheidung stattfinden.

Während die Interaktion bei Spielen oder Büchern dieses Genres absolut notwendig sein kann – in einem Buch zum Beispiel muss man nach der Auswahl zum angegebenen Kapitel wechseln –, kann der interaktive Film so vorprogrammiert werden, dass Zuschauer:innen nicht zwingend eine Wahl treffen müssen. Eine vorausgewählte Option wird am Ende der paar Sekunden, die den Zuschauer:innen für die Auswahl zur Verfügung stehen, automatisch aktiviert, und die Handlung geht weiter. So kann das Eingebundenheitsgefühl getrübt sein.

Ein Ende oder mehrere?

Inwieweit sich die Zuschauer:innen eingebunden fühlen, hängt etwa von der Häufigkeit der Interaktion, der Relevanz der getroffenen Auswahl und der Zahl der Auswahlmöglichkeiten ab. Je öfter und tiefer man Einfluss auf die Handlung nehmen kann, desto besser.

Einer der neusten interaktiven Filme ist „Unbreakable Kimmy Schmidt vs. The Reverend“, der diesen August auf Netflix erschien. Es ist die Fortsetzung der Comedyserie „Unbreakable Kimmy Schmidt“. Kimmy (Ellie Kemper) steht kurz vor ihrer Hochzeit, und findet ein mysteriöses Buch in ihrem alten Rucksack. Sie macht sich auf die Suche nach dem Reverend, der sie und weitere Frauen jahrelang einsperrte und misshandelte, um herauszufinden, was es mit dem Buch auf sich hat. Ob sie es rechtzeitig zu ihrer Hochzeit schafft?

Die Zuschauer:innen werden ab und an vor die Wahl gestellt zwischen zwei oder mehreren Optionen: Wer soll Kimmy auf ihrer Reise begleiten? Soll ihr guter Freund Titus (Tituss Burgess) in der Karaokebar den richtigen oder falschen Song singen? Die Handlung läuft nach dem sogenannten Flussdiagram ab, das bedeutet, viele der Auswahlmöglichkeiten sind lineare Pfade, von denen nicht alle relevant sind für die gesamte Handlung. Nach bestimmten Szenen wird der Film automatisch ein wenig zurückgespult, und man muss dieselbe Szene mehrfach schauen, bis man endlich die richtige Entscheidung trifft. Denn es gibt nur ein Ende.

Wenn man mit der Erwartung, Einfluss auf die Handlung nehmen zu können, an „Unbreakable Kimmy Schmidt vs. The Reverend“ herangeht, wird man also enttäuscht. Die irrelevanten Optionen fühlen sich an wie Fußnoten oder eine Special Edition mit herausgeschnittenen Szenen: Man kann sie haben, muss aber nicht.

Zuvor nur für Kinder

Interessant wurden interaktive Filme für Netflix nach ihrem weltweiten Erfolg mit „Bandersnatch“ im Jahr 2018. Der Streamingdienst bot damals zwar bereits weitere interaktive Filme an, diese richteten sich aber an Kinder. Doch „Bandersnatch“ kam bei erwachsenen Zuschauer:innen so gut an, dass der Produkt-Vizepräsident Todd Yellin einige Monate nach dem Release ankündigte, weitere interaktive Filme anzubieten. „Bandersnatch“ ist Teil der „Black Mirror“-Anthologie.

Der Film handelt von der Entstehungsgeschichte des gleichnamigen Videospiels im Jahr 1984. Die Handlung läuft hier in einer Baumstruktur: Zuschauer:innen werden gefragt, was der Protagonist Stefan Butler (Fionn Whitehead) zum Frühstück essen, oder ob er seine Therapeutin besuchen soll. Bestimmte Handlungen geben einen neuen Pfad und später neue Entscheidungen frei. Es gibt fünf unterschiedliche Enden. Der Film dauert zwar 90 Minuten, allerdings stehen den Zuschauer:innen insgesamt etwa fünf Stunden Filmmaterial zur Verfügung. Es handelt sich also um einen größeren Produktionsaufwand.

Außerdem beinhaltet „Bandersnatch“ eine Metaebene, auf der Butler ein Gefühl von Kontrollverlust über seine Handlungen entwickelt, worüber er auf Therapiesitzungen spricht: Ein weiteres Mittel für das Eingebundenheitsgefühl. Die Serie „Black Mirror“ thematisiert, welche Nebenwirkungen unsere Technologiesucht hat. So auch hier, indem den Zuschauer:innen das Gefühl vermittelt wird, durch Technologie Einfluss auf das Leben eines echten Menschen nehmen zu können.

Realistische Charaktere

Wer sich abseits von Netflix mehr Kontrolle über die Protagonist:innen bzw. die Handlung wünscht, ist bei „Beyond: Two Souls“ richtig. Für Quantic Dream entwickelte David Cage das Spiel im Jahr 2013 für Playstation 3, dessen Grafik 2019 für den PC verbessert wurde. Die Gesichtszüge der Darsteller:innen Ellen Page (Jodie Holmes) und William Dafoe (Nathan Dawkins) wurden ins Spiel übertragen. Es handelt sich bei „Beyond: Two Souls“ um das erste Videospiel, bei dem die Mimik so realistisch ist wie man es sonst nur von Spielfilmen kennt. Das macht die Erfahrung so außergewöhnlich und die Charaktere realitätsnah.

Jodie hat die Gabe (und den Fluch), seit ihrer Geburt an mit dem unsichtbaren Wesen Aiden zu leben. Nur sie kann mit ihm kommunizieren. Von ihrer Kindheit an begleiten Gamer:innen Jodies Leben in unterschiedlichen Abschnitten, sie trainieren, kämpfen und erleben mit. Die längeren Filmsequenzen machen es eher zu einem interaktiven Film als einem gewöhnlichen Konsolenspiel. Man kann Ja/Nein-Fragen beantworten, zum Beispiel, ob Jodie mit dem Jungen, den sie auf einer Geburtstagsparty kennenlernt, sprechen und flirten soll.

Darüber hinaus muss man Jodie durch Flucht- oder Kampfsituationen steuern. Dabei kann man zwischen Jodie und Aiden wechseln – und manchmal muss man, um weiterzukommen.

Wie bereits erwähnt sind interaktive Filme historisch betrachtet und per Definition Videospiele, in die Filmaufnahmen eingebaut werden, durch die sich ein roter Faden zieht. Daher dürfte jede:r Gamer:in über die erstaunte Presse nach „Bandersnatch“, die den Film als „das neue Ding“ präsentierte, schmunzeln. Doch letztendlich spielt es vielleicht keine große Rolle, wie man ein Produkt nennt, solange es unterhält.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.