Inklusion in Corona-Zeiten: Hinter die Glasscheibe gesperrt
Der kleine Frederick soll den Unterricht hinter einem Fenster verfolgen, weil er das Down-Syndrom hat und Probleme, sich an Abstandsregeln zu halten.
![Eine Gruppe von Menschen mit Behinderung in einem Glaskäfig Eine Gruppe von Menschen mit Behinderung in einem Glaskäfig](https://taz.de/picture/4167798/14/imago0095339844h-1.jpeg)
Frederick soll zu seinem Schutz und dem der anderen in den Gruppenraum neben dem Klassenzimmer. Betreut von einem Erzieher soll er von dort aus dem Geschehen im Klassenraum folgen können. „Sobald Frederick die Abstands- und Hygieneregeln verinnerlicht hat, darf er unter Auflagen den gläsernen Käfig auch verlassen“, schreibt der Vater und fügt ironisch an: „Ein schönes Beispiel für gelebte Inklusion in Coronazeiten.“
Die Regelung mache es möglich, dass Kinder aus Risikogruppen im Sinne der Inklusion überhaupt in die Schule gehen könnten, sagt dagegen Ingrid Körner, die Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen. Der Aufenthalt im Gruppenraum, in den sich die Kinder auch sonst zurückziehen können, diene dazu, Frederick einzugewöhnen. Andere Kinder dürften ihn dort nach Absprache und je nachdem, wie gut das klappt, besuchen.
Körner erinnert daran, dass das Wiederhochfahren des Unterrichts für alle Kinder befremdlich sein wird. Alle müssten sie die Abstands- und Hygieneregeln lernen, dürften nicht herum rennen oder sich balgen, aber Frederick gehöre eben zu jenen, denen das besonders schwer falle. „Das Ziel ist, dass auch dieses Kind wieder komplett am Unterricht teilnehmen kann“, sagt Körner.
Kollateralschaden der Corona-Krise?
Fredericks Vater ist da skeptisch: „Wenn das so einfach wäre, ihm das beizubringen, hätte er wahrscheinlich gar keinen Förderbedarf“, sagt von der Heide. Alles, was sein Sohn an der Schule schätze – der Morgenkreis, die Begegnungen – falle weg. Er fragt sich, was geschieht, wenn sein Sohn die Regeln eben nicht verinnerlicht, was wenn die Pandemie andauert? „Ist die Inklusion ein Kollateralschaden der Coronakrise?“, fragt von der Heide.
Der Vater befürchtet, dass sein Sohn „sehr wild werden wird, weil er natürlich mit den anderen in einem Raum sein will“. Dass es keinen Körperkontakt geben solle, werde für seinen Sohn schwer zu verstehen sein. Und dazu komme noch die Absonderung: „Die Rolle als Sonderling wird so richtig allen vor Augen geführt.“
Kerrin Stumpf, Geschäftsführerin des Vereins Leben mit Behinderung, findet „Sonderling“ einen guten Ausdruck, weil er die Stigmatisierung auf den Punkt bringt. „Das ist unsere ganz große Sorge im Verein“, sagt sie. Durch die Corona-Vorsorgemaßnahmen seien Menschen mit Behinderung plötzlich wieder außen vor. Auch Eltern empfänden wieder stärker: „Mensch, mein Kind funktioniert nicht.“
Stumpf erinnert daran, dass die Inklusion schon im Regelbetrieb eine Herausforderung für die Schulen sei. Umso mehr gelte das für die Coronakrise. Bei der Schulöffnung müsse auf die Verhältnismäßigkeit geachtet werden. „Wenn ein Kind eine Gefahr darstellt, wäre das System nicht haltbar und die Schule müsste schließen“, sagt sie. Leider begünstigten ja schon allein die architektonischen Gegebenheiten nicht die Inklusion.
Die Lösung, die die Schule anbiete, sei ein Angebot, das dem Kind den Anschluss an die Gruppe ermögliche. Laut Auskunft der Schulbehörde können Eltern ihr Kind auch zu Hause lassen, wenn sie es für gefährdet halten. Aber auch Lehrer reagierten zum Teil panisch, wenn sie Kinder nicht auf Abstand halten könnten. „Dass Frederick in ein Bildungsangebot einbezogen wird, ist mehr, als vielen in der Notbetreuung angeboten wird“, sagt Stumpf.
Ralf von der Heide, Fredericks Vater
Allerdings müsse genau darauf geachtet werden, was für das jeweilige Kind gut sei. Es sei eine Riesenaufgabe für die Schule und die Eltern, das abzuklären. Stumpf findet, es gelte, die Schulen zu ermutigen, „dass sie sich was trauen“.
Von der Heide bemängelt, dass er während der Zeit der Schulschließung keine Informationen von der Behörde erhalten habe. „Seit Ende Februar waren wir auf uns allein gestellt“, sagt er.
Die Coronakrise sei „eine Geduldsprobe für Angehörige wie für Menschen mit Behinderung“, bestätigt Stumpf. Vielen Familien, mit denen sie zu tun habe, werde das langsam klar und den Eltern mit Schulkindern zuerst. Sie hofft, dass sich das, was für sie der Clou an der UN-Behindertenrechtskonvention ist, auch in der Coronakrise zur Geltung bringen lässt: „Das ist nicht Dein Problem, sondern das der Gesellschaft.“
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