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Infektion mit Covid-19Was macht Corona im Herbst?

Neue Varianten, steigende Fallzahlen: Zwar bleiben die Verläufe meist mild. Aber die Folgen von Reinfektionen mit dem Coronavirus sind noch unklar.

Es gibt wieder mehr positive Tetsergebnisse, sofern getestet wird Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Berlin taz | Das Virus ist noch da, auch wenn niemand mehr sehen kann, wo genau es ist. Nachdem die meisten Schutz- und Überwachungsmaßnahmen zurückgenommen wurden, muss man sich der Lage ungefähr annähern. In Rheinland-Pfalz errechnet das Projekt SentiSurv im Auftrag des Landes modellhaft die Inzidenz. Für den 5. Oktober wird eine 14-Tage-Inzidenz von ungefähr 2.000 angenommen, Tendenz steigend.

Unklar ist, welche Varianten wie stark verbreitet sind. Eventuell befindet sich Deutschland im nahtlosen Übergang von der Eris- zur Pirola-Welle. Letztere Variante (BA.2.86) ist seit Ende August in Deutschland nachgewiesen. Es handelt sich um eine stark veränderte Omikron-Variante, die besser als ihre Vorgängerinnen den Immunschutz zu umgehen scheint.

Da andere Länder bereits von der Pirola-Welle betroffen sind, können ihre Erfahrungen Hinweise darauf geben, wie sich die Lage hier entwickeln wird. Großbritannien zum Beispiel verzeichnete in der zweiten Septemberwoche einen Anstieg von Krankenhauseinweisungen. Am stärksten betroffen waren Kleinkinder. Es ist denkbar, dass dieser stärkere Anstieg mit der geringeren Durchimpfung bei Kleinkindern zusammenhängt. Inzwischen scheint sich die Lage stabilisiert zu haben.

Möglicherweise gewähren die Booster, die seit dem 18. September auch in Deutschland verfügbar sind, eine hohe Kreuzneutralisation, entsprechende Studien sind allerdings noch nicht begutachtet. Die Ständige Impfkommission empfiehlt eine Auffrischung bislang nur für Risikogruppen. Die amerikanische Zulassungsbehörde CDC empfiehlt den Booster dagegen für alle Personen ab sechs Monaten.

Kein Grund zur Entwarnung

Sowohl Eris als auch Pirola scheinen nicht zu schwereren Verläufen zu führen als bisherige Omikron-Varianten. Dies ist kein Grund zur Entwarnung, Covid-19 ist nach wie vor eine Erkrankung, die verschiedenste Organsysteme in Mitleidenschaft ziehen kann. An den Gefahren hat sich nur insofern etwas getan, als eine gewisse Grundimmunität ­gegen akute Verläufe in der Bevölkerung vorherrscht.

Diese Immunität hatte einen Preis: Laut einer sehr detaillierten Studie des BARMER Instituts für Gesundheitssystemforschung verloren in den Jahren 2021 und 2022 166.000 Menschen mehr ihr Leben, als zu erwarten gewesen wäre. Mindestens drei Viertel dieser Tode stehen mit Corona in Verbindung.

Es stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Virus schließt Andrew Perkosz, Professor für Molekularbiologie und Immunologie an der Johns Hopkins University, im Gespräch mit dem Guardian: „(Die Viren) versammeln ein paar Mutationen, die ihnen erlauben, einigen der durch Infektion oder Impfung entstandenen Antikörper zu entkommen. Dann verbreiten sie sich für ein paar Monate, werden verdrängt von einer neuen Variante, die noch ein paar Mutationen angesammelt hat, um bestehender Immunität zu entkommen, und der Kreislauf beginnt von vorne.“ Immunität vor einer Infektion ist also nicht zu erwarten.

Für die aktuelle Lage kommt hinzu, dass bisher alle Varianten von Sars-CoV-2 das Immunsystem zu kompromittieren scheinen. Die letztjährige RSV-Welle beispielsweise könnte auf eine verringerte Immunität nach Covid-Infektion zurückzuführen sein.

Brandbrief in Österreich

Für jene, die sich keine Infektion leisten können und die als Vulnerable gelten, hat der US-amerikanische Immunologe Anthony Fauci vorausgesagt, dass sie im Verlauf der Zeit „auf der Strecke bleiben werden“. Fauci verteidigt mit diesen Worten die Laissez-faire-Politik der Biden-Regierung, die jener der bundesdeutschen Regierung sehr ähnlich ist.

In Österreich haben praktizierende Ärz­t*in­nen kürzlich einen Brandbrief an die Ärztekammer geschrieben. „Durch Infektionen und Reinfektionen sehen wir bereits jetzt, dass den Menschen gesunde Lebensjahre verloren gehen, die Übersterblichkeit anhaltend zu hoch ist und alleine in Europa 36 Millionen Menschen als Folge einer SARS-CoV-2-Infektion chronisch krank geworden sind. COVID-19 ist kein Schnupfen. Es ist kein grippaler Infekt. Es ist eine systemische, gefäßschädigende Erkrankung, die sich lediglich über den respiratorischen Weg, über Aerosole, ausbreitet“, heißt es darin. Sie fordern Schutz für Risikogruppen zumindest in ausgesuchten medizinischen Einrichtungen, eine Verbesserung der Raumluft und weitergehende Maßnahmen zur Beobachtung des Virus.

Nach wie vor ist unklar, ob, wie sehr und für wen mit jeder Neuinfektion das Krankheitsrisiko steigt – nicht nur für Long und Post Covid, sondern zum Beispiel auch für Schlaganfälle, Herzinfarkte, Demenz, Parkinson, Diabetes. Eine aktuelle Studie der University of California San Francisco (UCSF) fand bei Schulkindern auch zweieinhalb Jahre nach einer akuten Corona-Infektion eine erhöhte T-Zellen-Aktivität. Das betrifft nicht nur Menschen mit Long-Covid-Symptomatik, sondern auch einen Teil jener Menschen, die als genesen gelten. Wie lange diese Entzündungsherde im Körper verbleiben, ist ebenso spekulativ wie ihr Einfluss auf die Entwicklung insbesondere von Kindern.

In Deutschland darf derweil zumindest in der Behandlung von Long Covid auf Fortschritte gehofft werden. Nach einem Runden Tisch mit Ex­per­t*in­nen und Betroffenen hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigt, 60 Millionen Euro mehr als bisher in die Erforschung zu investieren. Bislang ist allerdings unklar, woher das Geld kommen soll.

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