Indische Feministin zu Vergewaltigungen: „Die Hälfte der Bürger ist nicht sicher “
Die indische Feministin Nishtha Gautam fordert, das Thema Vergewaltigung endlich zu politisieren – weil es dabei vor allem um Macht gehe.
taz: Frau Gautam, 2012 löste der sogenannte Nirbhaya-Fall in Indien Massenproteste aus. Damals wurde eine junge Frau von mehreren Männern in einem Bus vergewaltigt und getötet. Jetzt hat es wieder drei furchtbare Vergewaltigungen gegeben. Hat sich gar nichts geändert?
ist Redakteurin beim Onlinemagazin The Quint und publiziert regelmäßig zu Gender-Themen. Zuvor war sie Professorin für englische Literatur an der Delhi University. Sie ist geschieden und hat eine Tochter
Nishtha Gautam: Damals wurden vier der Täter zum Tode verurteilt, es wurden schärfere Strafen beschlossen und sechs Schnellgerichte geschaffen, die sich um Vergewaltigungen kümmern sollen. Aber es ist ja bekannt, dass schärfe Strafen nicht abschreckend wirken. Insgesamt wurde die Chance vertan, etwas Grundsätzliches zu ändern.
Was ist falsch gelaufen?
Das Problem ist, dass jedes Mal, wenn ein furchtbares Verbrechen passiert, gesagt wird: Man soll das Thema nicht politisieren. Aber diese Art von Protest bringt nichts, er sorgt nur dafür, dass die Protestierenden sich besser fühlen. Oskar Wilde hat einmal gesagt: Bei allem in der Welt geht es um Sex, außer beim Sex, da geht es um Macht. Weil es um Macht geht, muss das Thema politisiert werden.
Aber es wird doch politisiert. Oppositionsführer Rahul Gandhi hat gerade einen Nachtprotest gegen Mord und Vergewaltigung des Mädchens in Jammu angeführt …
Freitagabend trifft sich Bundeskanzlerin Merkel mit dem indischen Premierminister Narendra Modi zu einem „informellen Abendessen“ in Berlin. Merkel will offenbar die Gelegenheit nutzen, die Themen zu vertiefen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Staatsbesuch im März diskutiert hat: unter anderem die Wiederaufnahme der Verhandlungen über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien, die Zusammenarbeit mit Universitäten und in der Forschung sowie der Aufstieg Chinas. Modi war vor allem in Europa, um die Kooperation mit Skandinavien zu vertiefen und um am Commonwealth Gipfel in Großbritannien teilzunehmen. In London empfingen ihn Demonstranten, die den Schutz indischer Frauen vor Vergewaltigung forderten und Modis BJP eine Mitschuld an den jüngsten Fällen gaben. (bp)
Das ist nicht die Politisierung, die ich meine. Gandhi ist unglaubwürdig, weil er im Nirbhaya-Fall nichts gesagt hat, denn seine eigene Partei war damals an der Regierung. Es geht nicht um politische Instrumentalisierung. Wir müssen das Thema Vergewaltigung neu definieren.
Wie soll das gehen?
Es braucht ein anderes Narrativ. Es geht nicht darum, Frauen und Kinder besser zu beschützen. Das geht nicht nur Feministinnen an. Wir müssen Vergewaltigung als Thema der inneren Sicherheit sehen. Mehr als die Hälfte unserer Bürger sind nicht sicher. Es geht um Rechtssicherheit. Alle politischen Parteien sind patriarchalisch und setzen sich über Gesetze hinweg.
Rechtssicherheit ist ein großes Thema in Indien, Korruption in der Polizei ist weit verbreitet, gegen ein Drittel der Parlamentsabgeordneten laufen Kriminalverfahren …
Genau, es muss für Politiker zum Risiko werden, das Gesetz zu ignorieren. Letztendlich kann eine Änderung nur von den Wählern kommen. Wir sind es schließlich, die diese Leute an die Macht bringen. Sie müssen sich vor uns verantworten. Wir dürfen nicht lockerlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!