Impfen in Bremer Brennpunkt-Vierteln: Ärzte am Limit
Hausärzt*innen in Bremens armen Quartieren sollen mehr Vakkzine bekommen. Doch die, die impfen, sind bereits am Limit.
Angeregt hatte dies die Huchtinger Quartiersmanagerin Inga Neumann, die Egidi angerufen hatte, um zu fragen, wie er helfen kann. „Viele Leute hier sind skeptisch“, sagt Neumann, „es ist wichtig, einen persönlichen Zugang zu finden, um Vertrauen zu schaffen.“ Sie habe selbst die Erfahrung gemacht, dass viele sehr offen reagiert hätten, wenn sie mit ihnen über die Impfung sprach. „Von einer Frau weiß ich, dass sie sich jetzt auch hat impfen lassen, obwohl wir vorher eine heftige Diskussion hatten.“
Neumann vermutet, dass die Skepsis mit mangelhaften Informationen zu tun hat. Möglich sei aber auch, dass die Impfungen als etwas vom Staat Verordnetes wahrgenommen würden. „Hier leben viele Menschen, die nie gefragt werden, aber jetzt werden sie mal wieder aufgefordert, etwas zu tun.“
Oft genug hat sich der Blick in der Pandemie auf die Brennpunkt-Stadtteile gerichtet, in denen die Infektionsraten besonders hoch sind. Die Diskussion gab es im vergangenen Jahr während der zweiten Welle schon einmal, gerade geht es wieder los. Im Herbst ging es in erster Linie darum, dass sich viele Menschen in beengten Wohnverhältnissen ansteckten und um Beschäftigte, die sich nicht ins Homeoffice zurückziehen können.
Aktuell kommt die Sorge hinzu, dass gerade dort, wo sich viele Menschen infizieren, die Impfbereitschaft zu niedrig ist. Huchting hat laut Gesundheitsbehörde nach Gröpelingen die zweithöchste Inzidenz bremenweit.
Am Donnerstag meldeten sich sowohl die Grünen- als auch die SPD-Fraktion mit Pressemitteilungen zu Wort, in denen sie Vorschläge machen, wie das Problem zu lösen sei. Die Grünen wollen „die Betriebsärzt*innen im Niedriglohnsektor einbinden“ und wie die SPD „die kultursensible Aufklärungsarbeit“ ausweiten sowie „mobile Impfteams“ losschicken.
Niemand weiß, welche Praxen impfen
Zuvor hatten sowohl „buten und binnen“ als auch der Weser-Kurier über die hohen Inzidenzen in den Bremer Brennpunktvierteln berichtet. Beide hatten Hajo Zeeb, Abteilungsleiter am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie zitiert. Dieser hatte angeregt, „die ärmeren Wohngegenden mit hohen Corona-Infektionszahlen bei der Vergabe von Impfdosen zu bevorzugen“.
Das Problem ist nur, dass niemand weiß, wer in den Stadtteilen überhaupt impft, nicht einmal die kassenärztliche Vereinigung, bestätigt deren Sprecher Christoph Fox. Das liegt daran, dass die Praxen, die sich seit April neben den Impfzentren mit Impfstoff beliefern lassen können, ihre Daten anonymisiert an die kassenärztliche Bundesvereinigung melden, die wiederum die Zahlen ans Robert-Koch-Institut weitergibt, das daraus das tagesaktuelle Impfquotenmonitoring erstellt.
Patient*innen müssen sich daher selbst bei ihren Hausärzt*innen nach einem Termin erkundigen. Oder darauf warten, dass sie vom Impfzentrum angeschrieben werden, wenn sie an der Reihe sind. Manche telefonieren sich auch quer durch die Stadt, bis sie jemanden gefunden haben. Einige Hausarztpraxen impfen auch schon Angehörige der Priorisierungsgruppe 3. Dazu zählen „Personen, bei denen aufgrund ihrer Arbeits- oder Lebensumstände ein deutlich erhöhtes Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus besteht“.
Das bedeutet, dass die Hausärzt*innen in den armen Vierteln aktuell mehr potenzielle Impflinge haben, die keine Einladung durch das Impfzentrum bekommen, weil diese Arbeits- oder Lebensbedingungen nicht erfasst werden können, anders als Berufs- oder Altersgruppen. Zudem gibt es in diesen Stadtteilen mehr Menschen mit Vorerkrankungen, die ebenfalls bevorzugt geimpft werden sollen.
Denn Armut hat schon vor Corona das Krankheitsrisiko erhöht. Das zeigt der Blick auf das Sterbealter: So wird nach einer Auswertung des statistischen Landesamts ein Mann in Oberneuland durchschnittlich 81,3 Jahre alt, in Lüssum hingegen nur 76,2 Jahre. Insofern könnten die Praxen in den Brennpunkt-Vierteln – wenn man wüsste, wer sie sind – tatsächlich mehr Impfstoff gebrauchen.
Praxen in Brennpunkt-Vierteln sind ausgelastet
Nur: Diejenigen, die jetzt schon in den abgehängten Stadtteilen impfen, sind gut ausgelastet. Günther Egidi hat am Mittwoch 68 Personen in seiner Praxis in Mittelshuchting immunisiert, seine in Gröpelingen niedergelassene Frau Heike Diederichs hatte 84 Personen zum Impftermin einbestellt. Mehr schaffe sie nicht, schreibt sie der taz.
Die Überlastung einzelner Praxen liegt nicht daran, dass die „Arztpraxen ungleich über unsere Stadt verteilt“ sind, wie die SPD-Fraktion vermutet, jedenfalls nicht die Hausarztpraxen. Tatsächlich kommen in Gröpelingen und Huchting sogar unterdurchschnittlich viele erwachsene Einwohner*innen auf eine Hausärztin. 992 sind es in Gröpelingen, 982 in Huchting. In der östlichen Vorstadt sind es 1.179 und in Schwachhausen 1.404. Das zeigt das Online-Verzeichnis der kassenärztlichen Vereinigung auf Stadtteilebene.
Aber: Die Facharztdichte ist in den reichen Vierteln sehr viel höher als in den armen, sodass die Hausärzt*innen dort Patient*innen behandeln, die in anderen Stadtteilen direkt die Facharztpraxis aufsuchen.
So wie niemand weiß, welche Praxen impfen, gibt es auch keinen Überblick darüber, wer geimpft wird, ob also die vom Robert-Koch-Institut festgelegte Impfreihenfolge in den Praxen eingehalten wird. Bis April, als nur die Impfzentren die Vakzine vergaben, bekam das Robert-Koch-Institut die Information, aufgrund welcher Indikation jemand geimpft wurde.
Daran ließ sich zum Beispiel erkennen, dass in Bremen überdurchschnittlich viele Menschen aufgrund ihres Berufs geimpft wurden und nicht, weil ihr Risiko besonders groß war, schwer an Corona zu erkranken. Seitdem die niedergelassenen Ärzt*innen mitimpfen, gibt es nur noch die Meldung, ob jemand unter oder über 60 Jahre alt ist.
Der Sprecher der kassenärztlichen Vereinigung in Bremen, Christoph Fox, sagte der taz, dies sei im Sinne der Ärzt*innen, die sonst zu viel Aufwand mit der ohnehin schon umfangreichen Dokumentation hätten. „Es ist jetzt wichtig, schnell möglichst viele zu impfen“, sagt er.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels stand fälschlich, dass „Personen mit prekären Arbeits- oder Lebensbedingungen“ zur Priorisierungsruppe 3 zählen. Diese Formulierung ist einer veralteten Übersicht der kassenärztlichen Bundesvereinigung zu den Priorisierungsgruppen entnommen. Richtig ist, dass „Personen, bei denen aufgrund ihrer Arbeits- oder Lebensumstände ein deutlich erhöhtes Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus besteht“, zur Priorisierungsgruppe 3 gehören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Pressefreiheit unter Netanjahu
Israels Regierung boykottiert Zeitung „Haaretz“