Immer mehr Türken beantragen Asyl: Plötzlich Flüchtling
Eine Regisseurin, eine kurdische Gewerkschafterin und eine Wissenschaftlerin fühlen sich nicht mehr sicher. Jetzt hoffen sie auf Deutschland.
Damla Yıldırım beantragt in Deutschland Asyl. „Das war völlig ungeplant und überstürzt“, sagt sie rückblickend. „Aus Panik habe ich Asyl beantragt.“ Yıldırım lebt derzeit in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft. Sie ist eine von 4.437 Türkinnen und Türken, die in diesem Jahr Asyl beantragt haben – mehr als dreimal so viele wie im vergangenen Jahr.
Seit dem gescheiterten Putschversuch und den anschließenden Festnahmen in der Türkei ist die Zahl der Asylanträge noch einmal merklich gestiegen. Allein im August beantragten 762 türkische Staatsbürger in Deutschland Asyl – fast so viele wie im gesamten ersten Quartal. Und das, obwohl die Ausreise für Beamte, Oppositionelle und Bürgerrechtler kompliziert geworden ist.
Vor allem, wenn sie per Haftbefehl gesucht werden wie Sakine Esen Yılmaz. Monatelang versteckte sich die 39-Jährige, bis sie fliehen konnte. Im April wurde Esen Yılmaz zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt, weil sie auf einer Jahre zurückliegenden Pressekonferenz auf Kurdisch gesprochen hatte. „Propaganda für eine terroristische Organisation“, so die Anklage. Esen Yılmaz ist Kurdin und Generalsekretärin der türkischen Lehrergewerkschaft Eğitim Sen. Deren Mitglieder wurden zu Tausenden entlassen und zum Teil festgenommen, vor allem im kurdischen Osten des Landes.
Mehrfach im Gefängnis
Auch Sakine Esen Yılmaz war schon mehrmals im Gefängnis. Doch dieses Mal, ahnte sie, würde sie nicht mehr so schnell herauskommen. Drei weitere Gerichtsverfahren gegen sie sind noch offen. Ihr drohen bis zu 22 Jahre Haft. Nach dem Putschversuch wurde ihr klar, dass sich ihr Land in eine Diktatur verwandelt hat. „Plötzlich wusste ich, dass ich die Türkei verlassen muss. Das hat mich sehr traurig gemacht.“
Die Flucht ins Exil bedeutet für „Staatsfeinde“ wie Esen Yılmaz auch eine finanzielle Belastung. 16.000 Euro hat sie Schmugglern gezahlt, um, in einem Lkw versteckt, bis nach Deutschland zu kommen. Drei Tage dauerte die Fahrt. In der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Unna beantragte sie Asyl.
Trotz allem habe sie noch Glück gehabt, findet Esen Yılmaz. Die deutsche Schwestergewerkschaft von Eğitim Sen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), kümmert sich um sie. Und im Gegensatz zu der HDP-Aktivistin Yıldırım wohnt sie in Köln bei einem GEW-Mitglied. In die Asylanhörung ging sie gut vorbereitet, konnte Gerichtsurteile und Haftbefehle vorlegen. Ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sie als politisch Verfolgte anerkennt, ist dennoch unklar.
Ungewisse Entscheidungsgrundlage für Asylanträge
Derzeit liegt die Anerkennungsquote türkischer Asylbewerber bei 7 Prozent. Doch seit die Menschenrechte am Bosporus erodieren, wissen die Bamf-Entscheider offenbar nicht mehr, ob die bisherigen Vorgaben noch gelten oder nicht. Ein Bamf-Entscheider, der anonym bleiben will, lässt die taz wissen, dass es derzeit in der Behörde keine Entscheidungsgrundlage für Asylanträge aus der Türkei gibt.
Herkunftsländerleitsätze (HKL) zur Türkei, mit deren Hilfe Asylentscheidungen getroffen werden, lägen nicht mehr vor. „Die bislang dort verbreite Ansicht, in der Türkei sei alles in Ordnung, ist nach dem Putsch wohl nicht mehr vertretbar“, vermutet der Mitarbeiter. Derzeit werden die HKL „überarbeitet und fortgeschrieben“, bestätigt das federführende Innenministerium der taz. Wann die neuen Leitsätze kommen und ob sie dazu führen werden, dass mehr Flüchtlingen aus der Türkei anerkannt werden, ließ das Ministerium offen.
Die Frage ist auch außenpolitisch bedeutsam. Schon jetzt wirft Erdoğan der Bundesregierung vor, „Terroristen“ zu beherbergen, und fordert deren Auslieferung. Sollten Menschen wie Damla Yıldırım und Sakine Esen Yılmaz den offiziellen Schutz des Nato-Partners erhalten, würde das die Beziehungen zur Türkei weiter belasten. Die Diplomaten im Auswärtigen Amt dürften es bevorzugen, wenn die Asylverfahren über Türken keine hohen Wellen schlagen.
Nicht an die große Glocke hängen
So ähnlich sieht es auch eine Türkin, die ein Stipendium für gefährdete Wissenschaftler erhalten hat und nun zwei Jahre in Deutschland forscht. Auch sie erwägt, hier Asyl zu beantragen. Nur will sie das nicht an die große Glocke hängen. „Je mehr darüber berichtet wird, desto schwerer wird es für diejenigen, die noch herauswollen.“
Auch für Angehörige ist die Situation oft heikel. Als HDP-Anhängerin Yıldırım in Berlin Asyl beantragte, brach selbst ihr Ehemann vorübergehend den Kontakt mit ihr ab. Die Zurückgelassenen haben Angst, stellvertretend bestraft zu werden. Jedes Telefonat, das weiß auch Damla Yıldırım, könnte ihn in Schwierigkeit bringen. Der Mann der Gewerkschafterin Esen Yilmaz hat seine Lehrerstelle bereits verloren. Sie beide, beteuert sie, hätten nichts mehr zu verlieren. Sie rechnet fest damit, als politisch Verfolgte anerkannt zu werden. Und wenn nicht? „Dann stimmt auch hier etwas mit den demokratischen Werten nicht.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alleingang des Finanzministers
Lindner will Bürgergeld kürzen
Putins Brics-Gipfel in Kasan
Club der falschen Freunde
Deutsche Asylpolitik
Die Hölle der anderen
Kritik an Initiative Finanzielle Bildung
Ministeriumsattacke auf Attac
Linke in Berlin
Parteiaustritte nach Antisemitismus-Streit
Investitionsbonus für Unternehmen
Das habecksche Gießkannenprinzip