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Immer mehr Frauen obdachlosVon der Politik im Stich gelassen

Kommentar von

Robert Matthies

Dass die Zahl wohnungsloser Frauen um 40 Prozent gestiegen ist, steht für politisches Versagen. Jetzt müssen schnell wirksame Maßnahmen kommen.

Immer öfter weiblich: eine junge obdachlose Frau bittet auf der Straße um Geld Foto: Orestis Panagiotou/dpa

I mmer mehr Frauen in Niedersachsen sind wohnungslos. Das geht aus einem Statistik-Bericht zur Lage von Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten in Niedersachsen hervor, den die Zentrale Beratungsstelle Niedersachsen (ZBS) gemeinsam mit der Diakonie und der Caritas Anfang kommenden Jahres vorlegen will.

Die neuen Zahlen sind alarmierend: Innerhalb von fünf Jahren stieg die Zahl der Frauen, die Tagesaufenthalte für Obdachlose nutzen, von 4.054 auf 5.721, ein Anstieg um über 40 Prozent. Der Frauenanteil an allen Wohnungslosen kletterte demnach auf 30,2 Prozent.

Und das ist nur das Hellfeld, also die bekannt gewordenen Fälle, wie Gudrun Herrmann-Glöde, Referentin am ZBN betont. Die tatsächliche Zahl ist nach Ansicht von Ex­per­t:in­nen deutlich größer.

Eine Überraschung sind diese Zahlen nicht: Die Mieten explodieren, der soziale Wohnungsbau liegt seit Jahrzehnten danieder, die Energiepreise sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Und der Wohnungsmarkt in Niedersachsen ist auch auf dem Land oft so eng, dass selbst Erwerbstätige mit mittlerem Einkommen keine bezahlbare Wohnung mehr finden.

Wenn dann noch Gewalt in der Partnerschaft dazukommt – und das tut sie bei einem Großteil der betroffenen Frauen –, bleibt nur die Flucht. Und danach oft: nichts.

Zu wenig frauenspezifische Hilfen

Dass Frauen von diesen Entwicklungen besonders hart getroffen werden, ist auch das Ergebnis jahrelanger politischer (Nicht-)Entscheidungen. Das System versagt an mehreren Stellen. Ganz akut gibt es viel zu wenig frauenspezifische Hilfen. In den meisten Landkreisen Niedersachsens gibt es weder Notschlafstellen für Frauen noch geschützte Tagesaufenthalte.

Laut der Auswertung bieten derzeit nur neun der 45 niedersächsischen Gebietskörperschaften spezifische Angebote für Frauen an. Tagesaufenthalte gibt es bisher nur in Hannover und Osnabrück, stationäre Angebote nur in Hannover, Osnabrück, Nienburg und Hildesheim.

Wer vor gewalttätigen Part­ne­r:in­nen flieht, landet dann oft in einer gemischtgeschlechtlichen Unterkunft – und damit nicht selten auch in der nächsten Gewaltsituation. Wer das Risiko nicht eingehen will, bleibt unsichtbar, schläft auf dem Sofa von Freundinnen, im Auto oder in der Gartenlaube.

Die Politik schaut seit Jahren zu. In Niedersachsen hat die Große Koalition aus SPD und CDU von 2017 bis 2022 das Verschwinden der Sozialwohnungen nicht stoppen können. Jahr für Jahr fielen Miet- und Belegungsbindungen weg, der Neubau blieb weit hinter dem Bedarf zurück.

Auch die aktuelle rot-grüne Landesregierung betont zwar „bezahlbares Wohnen“ als zentrale politische Aufgabe und hat erste Schritte wie die Gründung der landeseigenen Wohnraum Niedersachsen GmbH eingeleitet.

Es braucht ein landesweites Programm für frauenspezifische Notschlafstellen, Tagesaufenthalte und Übergangswohnungen, das die Realität von Gewalt und Flucht berücksichtigt

Aber angesichts eines Sozialwohnungsbestands, der Ende 2024 in Niedersachsen auf nur noch 48.665 Wohnungen geschrumpft war, reichen die bisherigen Maßnahmen nicht aus, auch wenn Niedersachsen bei der Neu-Förderung im Ländervergleich gar nicht so schlecht dasteht: Der Wohnungsmarkt bleibt angespannt, der Förderrahmen wächst zu langsam.

Und dass das Sozialministerium die ZBS mit der „Koordination der Hilfen für wohnungslose Frauen“ beauftragt hat, bleibt Symbolpolitik, solange das Geld fehlt. Die ohnehin klammen Kommunen sollen den Ausbau der Frauenhilfen irgendwie nebenher stemmen. Das wird nicht passieren.

Was es braucht, ist kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsbau, finanziert aus Landes- und Bundesmitteln; eine Mietpreisbremse, die diesen Namen verdient und auch Bestandsmieten deckelt; und ein landesweites Programm für frauenspezifische Notschlafstellen, Tagesaufenthalte und Übergangswohnungen, das die Realität von Gewalt und Flucht berücksichtigt.

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Redakteur taz nord
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