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Identitätspolitik auf der BuchmesseIch ist eine andere

Minderheitenpolitik findet nicht mehr nur in der Linken statt. Das kann man als Fortschritt lesen, gäbe es nicht den Link zu einem Gegenwartsparadigma.

Ist das, was wir als unsere Identität annehmen selbst gewählt oder Ergebnis von Unterwerfung? Foto: picture alliance/Christophe Gateau/dpa

Beachtlich ist die Anzahl der Titel über (Anti-)Rassismus, LGBTI-Themen, Feminismus und Identitätspolitik, die die deutschen Verlage in diesem Herbst präsentieren. Musste man Bücher zu diesem Themenkomplex früher in linken Buchläden suchen, füllen sie heute große Sonderflächen in den Filialen großer Buchhandelsketten.

Nicht nur dort sind diese Themen angekommen. Sogar Modeblogs präsentieren Bücher über Identitätspolitik neben Kaufempfehlungen für die neuesten Chunky Boots und neben Interior-Tipps für die neue Eigentumswohnung.

Über die verstörenden Individualitätsbehauptungen und Subversionsgefühle in diesen Blogs à la „Meine Tochter trägt Blau statt Rosa“, die ebenso aus der Zeit Ludwig Erhards stammen könnten, kann man bestenfalls hinwegsehen wie auch über die Fragen, wann das richtige Alter fürs Heiraten erreicht ist, wie man einen bunten Schal richtig stylt oder welche Kleidung die PR-Assistentin letzte Woche trug.

Du kannst nur sein, wer du bist

Ebenso sollte man die sich unendlich wiederholenden Artikel mit Titeln wie „Der Tag, an dem ich verloren ging und mich selbst wiederfand“ – „Wer bin ich?“, – „Die Herausforderung, die Identität als Mutter zu bewahren“ und „Du kannst nur sein, wer du bist“ oder „Wir wollen nur sein, wer wir sind“ ignorieren.

Oder vielleicht doch nicht? Denn wirklich interessant ist hier doch die Frage: Warum findet Identitätspolitik, die die Linke schon seit Längerem spaltet, in dieser spießigen, affirmativen Welt überhaupt eine so große Resonanz?

Oder anders gefragt: Was macht die Identitätspolitik für die weiße, (links-)liberale Mittelschicht so interessant?

Verkürzte Emanzipationsideale

„Verkürzte Emanzipationsideale“ würde wahrscheinlich die Philosophin und Feministin Nancy Fraser antworten und Linksintellektuelle wie Slavoj Žižek ihr zur Seite springen mit Aussagen wie: Der neoliberale Mainstream und die Kämpfe für Minderheitenrechte teilten dieselben kulturellen Werte – individueller Aufstieg statt sozialer Gleichheit, Selbstoptimierung statt Solidarität, Empowerment statt Antikapitalismus – linke Identitätspolitik sei ein großes Repräsentationstheater in unheiliger Allianz, in dem die Linke die Klassenpolitik aufgegeben habe.

Die Idee, dass man die identitätspolitischen Anliegen prinzipiell fein säuberlich von den klassenpolitischen oder sozialen trennen könne, ist nicht überzeugend, haben sich doch historisch viele Impulse aus den sozialen Bewegungen zunächst als partikulare Interessen dargestellt und waren letztlich Teil eines allgemeineren Anliegens für soziale Gerechtigkeit.

Was aber die partikularen Kämpfe unserer Zeit so problematisch macht, sind die immer schrilleren Grenzziehungen zwischen kulturellen Differenzen und vermeintlich klar voneinander getrennten Identitäten. Diese Einhegungen führen zu abstrusen Vorstellungen von Identitäten und davon, was sie im Kern ausmacht.

Und je genauer die Vorstellungen, desto vehementer werden sie verteidigt, abgegrenzt und überhöht und die entsprechend kategorisierten Menschen schlussendlich mit einer Aufforderung belegt, die dem großen Paradigma unserer Gegenwart entspricht: Sei authentisch!

Spiel mit den Masken

Das Authentizitätsparadigma ist für Menschen, die in der Postmoderne geschult sind, einigermaßen unterkomplex. Schließlich fand man den Gedanken, dass Identitäten nur konstruiert sind, um uns an das zu fesseln, was wir sein sollen, aber vielleicht gar nicht sein wollen, ziemlich gut. Die Freiheit, die in der Dekonstruktion aufschien, war das Gegenteil von Safe Spaces, man begehrte nicht Verbote und forcierte schon gar keine Schuld- und Geständniskultur, wie sie heute in Teilen der Linken gepflegt wird.

Stattdessen suchte man lieber das Spiel mit den Masken, wie es bei Michel Foucault hieß, der das wunderbar lapidar auf den Punkt brachte: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: Das ist eine Moral des Personenstands; sie beherrscht unsere Papiere.“

Gegenwärtig ist das anders. Identität, Seele, Authentizität – diesen Begriffen wohnt heute ein Individualitätsversprechen inne, das allerorten als begehrenswert dargestellt wird. Alles Künstliche, Unechte, Fragmentierte, Vieldeutige, Widersprüchliche, Abstrakte und jedes Geheimnis ist verdächtig.

Die Kabarettistin Lisa Eckhart drückte das in einem Interview sehr klug so aus: „Dass wir in einer Zeit leben, wo ‚künstlich‘, ‚manieriert‘ und ‚gewollt‘ keine Komplimente sind, erachte ich als sehr seltsam.“ Und wie seltsam, dass die Kritiker:innen Eckhart nicht einfach als Rassistin beschimpften, sondern sich von ihrer Künstlichkeit angewidert zeigten.

Wo das Gesetz der Wahrhaftigkeit gilt

Wo ständig Wahrhaftigkeit eingefordert wird, verlernt man schnell, zwischen Autor und Erzähler oder zwischen Mensch und Rolle zu unterscheiden, und sind Gefühle wichtiger als Argumente.

Man denke nur an den Erfolg des Memoir-Genres in der Literatur, das einen Kritiker der Zeitung Die Welt zu der verstörenden Aussage anregte: „Kann es sein, dass mir das Fiktionale plötzlich wie eine Lüge vorkommt, also etwas moralisch Verwerfliches.“

Woher das alles? Für den Literaturwissenschaftler Erik Schilling, der kürzlich ein Buch mit dem Titel „Authentizität“ (C.H. Beck, 2020) vorgelegt hat, ist Authentizität als „zentrale Sehnsucht“ der Gegenwart eine „Reaktion auf zunehmende gesellschaftliche Komplexität“.

Analytischer der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen. Er deutet den „dauerbrennenden Authentizitätsdiskurs“ völlig richtig im Zusammenhang mit einem gefühlten „Verlust von Erfahrbarkeit“. In der kapitalismuskritischen Variante wird dieser Verlust in der Warenform verortet, Stichwort Entfremdungs- und Verdinglichungstheorien. In der rechten Variante ist die Moderne-skeptische Kulturkritik ein Vorläufer.

Klar ist, die Sehnsucht nach Authentizität ist eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Und selbst dort, wo man sich progressiv geriert, kommt man ständig mit einem moralischen Imperativ um die Ecke. In diesen Modeblogs etwa, wo der Mode als Behauptung des Neuen gefolgt, aber mit Bedacht Mittelmaß gehalten wird, um möglichst vielen einen Identifikationsraum zu geben und Politik in Lifestyle übersetzt wird, liegen die ideologischen Anrufungen wie in einem offenen Buch vor einem. – „Du kannst nur sein, wer du bist.“

Jenseits der Unterdrückung

„Emanzipationsbewegungen müssen das politisieren, was als soziale Eigenschaft gegen sie gerichtet wird“, schreibt der liberale Rechtswissenschaftler Christoph Möllers in seinem gerade erschienenen Buch „Freiheitsgrade“ (Suhrkamp, 2020) und führt unfreiwillig den blinden Fleck der Identitätspolitik unterm Authentizitätsparadigma vor, der in der fehlenden Kritik des Identitätszwangs besteht und darin, in den Kategorisierungen zu verharren.

Oder wie formulierte das ein Aktivist der Black-Lives-Matter-Bewegung in Anlehnug an die Schriftstellerin Toni Cade Bambara vergangenen Sommer: „Wir brauchen Kategorien, die den Kampf der schwarzen Feministinnen jenseits der Unterdrückung verstehen, die das System ihnen auferlegt. Wir alle wissen, dass Identitätspolitik, dieses Gespräch über „weiße Privilegien“ … die Grenzen, die wir zu überwinden versuchen, verstärkt. Wenn sie jemals einen Nutzen oder ein Ziel hatte, hat der Aufstand [BLM, T.M.] sie an diesem Punkt abgelöst.

Man wird sehen. In Deutschland kommt sie wohl gerade erst im (links-)liberalen Mainstream an. Andererseits ist das ja bei Weitem nicht das Schlimmste.

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8 Kommentare

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  • Sehr interessant zu lesen.

  • Schöner Artikel. Für meinen Geschmack hätte er in einfacherer Sprache geschrieben werden können. Für noch mehr Impact, sozusagen...

    Ergänzen möchte ich, dass mir, als Wissensarbeiter, folgendes auffällt: Der Druck zur Identitätsbildung und Identifikation, insbesondere um der eigenen Eindeutigkeit willen, ist durch unseren Zeitgeist getrieben. Wir sind alle aufgefordert ständig aussagefähig zu sein, eine Meinung zu haben. So auch zu uns selbst und wer wir sind.

    Zu sein, ohne Position zu beziehen. Zu sein, ohne damit eine Position zum Ausdruck bringen zu wollen, das ist gar nicht vorgesehen.

    • @nanymouso:

      Diese Komplexität in Form erwarteter Individualitätsinszenierung wird womöglich genau durch Identität reduziert: durch Rückbindung an communities. So ist die anstrengende Originalitätsprätention vorformatiert als Filialpersönlichkeit - nicht mehr, wie im Mittelalter, einer Schicht, sondern einer community.

  • "Das Authentizitätsparadigma ist für Menschen, die in der Postmoderne geschult sind, einigermaßen unterkomplex." – Horch, endlich sagts mal wer. Tja, Selbstentwurf und so is halt auch jetzt was von damals, als die Musik noch gut war.



    Wo ist die Hans-A-Plast-Kassette.

  • Interessanter Artikel.

  • Much all weesen. But. Imre Kertész & nen gemütlicher Sessel

    Sach mal so: Nach seinem Galeerentagebuch



    „Ich – ein anderer“



    Der Tagebuchroman Valaki más. A változás krónikája, 1997 (dt. Ich – ein anderer, 1998) ist eine Art Fortsetzung des Galeerentagebuchs für die Jahre 1991–1995, in denen sich Kertész’ Leben grundlegend veränderte. Zum einen schildert Kertész, wie aus seinem Gefängnisleben im sozialistischen Ungarn ein rastloses Nomadenleben mit Reisen und Stipendienaufenthalten im Ausland wurde. Zum anderen deutet er in den Einträgen seit 1992 ein beginnendes Liebesverhältnis mit seiner zweiten Frau Magda (im Roman: M.) an, die er 1996, kurz nach dem Tod seiner ersten Frau Albina, heiratete. Der Roman endet mit Albinas (oder: A.s) Tod im Herbst 1995. Angesichts dieser Umbrüche sieht der Ich-Erzähler des Romans sich dazu veranlasst, seine Identität neu zu hinterfragen. Dabei nimmt er die Position eines Individuum ineffabile ein, das sich generell einer Objektivierung entzieht: „Meine einzige Identität ist die des Schreibens“[78]. Schon 1977 hatte Kertész im Galeerentagebuch bemerkt, mit dem „Schreiben“ versuche er, seine „Determiniertheiten“ zu überwinden und „nicht als das zu erscheinen, was ich bin“[79]. Um seine Würde zu wahren verweigert er nun ebenso jede kollektive Identität, wie etwa die als Jude, „über den man in der Mehrzahl reden kann, der ist, wie die Juden im allgemeinen sind, dessen Kennzeichen sich in einem Kompendium zusammenfassen lassen wie die einer nicht allzu komplizierten Tierrasse“[80], aber auch eine Identifizierung mit seiner früheren persönlichen Existenz: „Schon seit langem suche ich weder Heimat noch Identität. Ich bin anders als sie, anders als die anderen, anders als ich.“

    unterm——



    de.wikipedia.org/wiki/Imre_Kert%C3%A9sz

    • @Lowandorder:

      & weils so schön zuvor war -

      „Galeerentagebuch“Bearbeiten



      1992 veröffentlichte Kertész den Tagebuchband Gályanapló (dt. Galeerentagebuch, 1993), der die Jahre 1961–1991 umfasst. Das als Roman deklarierte Werk ist ein Tagebuch in literarisch aufbereiteter, redigierter Form. In dieser „Galeerenarbeit der Selbstdokumentation“[77] geht Kertész Fragen der Determiniertheit und Freiheit des Individuums nach sowie der verlorenen Möglichkeit seiner Entfaltung in einer totalitären Welt. Neben persönlichen Erfahrungen dokumentiert er seine Auseinandersetzung mit einer Vielzahl philosophischer und literarischer Autoren der Weltliteratur, die jeweils für seine eigene Arbeit relevant waren (Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Ortega, Camus, Sartre, Adorno, Kafka, Thomas Mann, Márai, Beckett u. a.).



      & dann - damits frauman rundet



      „Roman eines Schicksallosen“Bearbeiten



      Kertész arbeitete an seinem ersten Roman Sorstalanság (Schicksalslosigkeit), für dessen Handlung er seine Erlebnisse in Auschwitz und Buchenwald verwendet hat, von 1960 bis 1973. Das Manuskript wurde 1973 von dem Staatsverlag Magvető abgelehnt. Nach der Veröffentlichung 1975 bei Szépirodalmi – laut Kertész dem einzigen anderen möglichen Verlag – wurde das Buch lange Zeit totgeschwiegen...,



      &



      Bedenkt dann dabei das damals unser aller Oberknarzer - außer zu Knarzen - nie nen müden Hering vom Teller.



      Aber zum Nobelpreis knarzte!



      “Wg diesem einen Buch? …das sei ja wohl etwas dürftig“ & frauman denkt sich dann: Ja. Du kamst mit deiner KnarzerIdentität - wer immer du zu sein meintest: Wahrlich zeitlebens nicht klar.

  • Zitat: „Man wird sehen. In Deutschland kommt sie [Anm.: die Identitätspolitik, die „Grenzen, die wir zu überwinden versuchen, verstärkt“) wohl gerade erst im (links-)liberalen Mainstream an. Andererseits ist das ja bei Weitem nicht das Schlimmste.“

    Ach, nicht? Ich finde ja, dass Menschen in diesem Punkt durchaus geteilter Meinung sein können.