piwik no script img

Identität in Sachsen-AnhaltEwig auf Suche nach dem Wir

Das Image als Schlusslicht prägt Sachsen-Anhalt. Nicht mal mit glorreicher Historie kann man sich trösten. Aber vielleicht ist anderes wichtiger.

Gibt es hier ein gemeinsames Wir? Bitterfeld 1990 Foto: Paul Glaser

Nach dem Wahlsieg wolle man als Erstes das Land Sachsen-Anhalt ­abschaffen, grinst eine Sprecherin der rotbeschlipsten Satiretruppe „Die Partei“ ins Mikrofon. Hinter der Bemerkung steckt mehr Tiefgang, als man der „Partei“ zutrauen würde. Denn das Bindestrich-Bundesland konstruiert seit 30 Jahren I­dentitäten und ringt um sein Image. Den Menschen, denen man hier ­begegnet, merkt man es auf den ersten Blick wenig an. Verglichen mit den Sachsen nebenan wirken sie spontan vertrauenerweckender und geradliniger. Und nicht nur beim Idiom klingt manches nach der „Berliner Schnauze mit Herz“. Aber das ist schon Teil des Identitätsproblems.

Vor allem in der Zeit der Umbrüche und Verunsicherungen, die dem Aufbruch 1989 in der DDR folgten, bot der Rückgriff auf Tradi­tionen und Geschichte überall im Osten zumindest eine mentale Orientierung. Wie wichtig immaterielle Werte waren, zeigte im Nachbarland die Beschwörung eines Sachsen-Mythos´ in der Ära von „König“ Kurt Biedenkopf. Der sächsische Übermensch hatte über Jahrhunderte Rückschläge wie den Niedergang des Bergbaus kreativ verkraftet, also würde er sich auch diesmal aufrappeln.

Auf ein solches stützendes Narrativ konnte Sachsen-Anhalt nicht zurückgreifen. Der moralische Schub einer glorreichen Vergangenheit blieb dem künstlichen Land verwehrt. Vorgängerterritorien waren seit dem Wiener Kongress von 1815 die 1944 von den Nazis aufgeteilte preußische Provinz Sachsen und der Freistaat, später das Land Anhalt. Nach der Kapitulation wurde in der Sowjetischen Besatzungszone 1947 das fusionierte Land Sachsen-Anhalt gegründet. 1952 hob die DDR die Länderstruktur schon wieder auf.

In der Phase der Länderneubildung verunsicherten sächsische Pläne die potenziellen Sachsen-Anhalter zusätzlich. Variantenvorschläge sahen auch ein Groß-Sachsen-Thüringen und ein Groß-Brandenburg vor. Die Restitution des 1952 aufgelösten Landes kam gar nicht mehr vor. In den Grenzen der bisherigen DDR-Bezirke Halle und Magdeburg wurde es schließlich doch wiederhergestellt, nunmehr mit der Hauptstadt Magdeburg.

Ungünstige Startbedingungen

Eine Selbstfindung des heterogenen Neulandes erschwerten ungünstige Startbedingungen. Im Norden, in der Börde und in der Altmark, herrschten ohnehin Äcker und Wälder vor. Im Süden waren Kohle- und Kaliabbau sowie Chemiegebiete wie der Raum Bitterfeld besonders stark von der Deindustrialisierung nach der Währungsunion betroffen. Eine Erfolgsgeschichte, und sei sie nur suggestiv inszeniert wie in Sachsen oder Thüringen, konnte niemand glaubwürdig erzählen. Bei fast allen statistischen Kennziffern rangierte das Land im Bundesvergleich am Ende.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Höchste Arbeitslosigkeit, geringste Gründerneigung, Niedriglöhne und demzufolge geringste Kaufkraft, dramatische Abwanderung und Überalterung bewirkten ein Rote-Laterne-Image, das wie ein kollektives Trauma wirkte. Manche der hartnäckigen Negativnachrichten tragen bis heute skurrile bis makabre Züge. Spitzenplätze auf der bundesweiten Angst-Skala etwa, und noch in diesem Wahlkampf-Mai fand das Bundeskriminalamt heraus, dass bei Straftaten in Sachsen-Anhalt am häufigsten geschossen wird.

Am Selbstbild hat sich wenig verändert

Wie in anderen ostdeutschen Ländern auch konnten in den vergangenen zehn Jahren in Sachsen-Anhalt einige Trends wie Abwanderung und Niedrigentlohnung gestoppt oder sogar umgekehrt werden. Am Selbstbild der 2 Millionen Einwohner hat das offenbar wenig geändert. Entsprechende Erhebungen hinterließen in den vergangenen 20 Jahren einen auffallend schwankenden Eindruck.

Negative Konnotationen schienen 2009 überwunden, als eine Zeitung feststellte, zwei Drittel der Sachsen-Anhalter fühlten sich ihrem Land „innig verbunden“. 2014 behauptete der Sachsen-Anhalt-Monitor ebenfalls, zwei Drittel der Bürger seien im Grunde zufrieden. Ein Jahr später waren es nur noch 28 Prozent.

Beim seit eineinhalb Jahren laufenden Online-Meinungsbarometer „MDRfragt“ erhärteten die Teilnehmer in diesem Mai das Schlusslicht-Dauerimage ihres Landes. 69 Prozent der jungen Menschen halten dieses für unattraktiv. Im Vergleich mit Sachsen und Thüringen wird Sachsen-Anhalt auch bei Gewerbeansiedlungen, medizinischer Versorgung, Umwelt- und Klimaschutz oder bei der Anbindung ländlicher Räume am schlechtesten bewertet.

Hoher Erlösungsbedarf

Die Folge ist ein anhaltend hoher „Erlösungsbedarf“, mit dem sich auch das volatile Wählerverhalten erklären lässt. Wie überall im Osten ruhten 1990 die Hoffnungen zunächst auf der CDU. Mit dem Magdeburger Modell übernahm 1994 eine Minderheit von SPD und Bündnisgrünen die Regierung und ließ sich von der PDS tolerieren – ein bundesweiter Skandal. Ein noch größerer waren vier Jahre später die 12,9 Prozent der rechtsradikalen und völlig politikunfähigen Deutschen Volksunion DVU. Das Politik­beben, das die 24,3 Prozent der AfD 2016 nur drei Jahre nach deren Gründung auslösten, fällt in die gleiche Kategorie.

Nachweisbare Erfolge haben offenbar sowohl das Selbstbild als auch das Image Sachsen-Anhalts nicht entscheidend aufbessern können. Seit jeher galten hier Kinderbetreuung und Ganztagsanspruch als vorbildlich, Hochschulen und Universitäten sind wettbewerbsfähig, aus Drecklöchern wie Bitterfeld oder den Braunkohletagebauen sind touristische Attraktionen wie die Goitzsche oder der Geiseltalsee geworden.

„Wir stehen früher auf“

Wie konnte die wenig beneidenswerte Landespolitik gegensteuern? Parallel zu den begrenzten Möglichkeiten konkreter Programme hat sie immer wieder versucht, ideelle und Imagedefizite in eine offensive Hauruck-Stimmung umzumünzen. Der spätere Finanzminister Jens Bullerjahn, eine schillernde SPD-Figur, prophezeite 2002 dem Land eine „Spitzenposition“ schon im Jahre 2010. Frohbotschaften sollte auch die „Heimatschachtel“ verbreiten, mit der ab 2006 vor allem junge Leute zur Rückkehr bewogen werden sollten. Mit dem Slogan „Wir stehen früher auf“ erntete Sachsen-Anhalt Respekt, aber auch Spott.

Wichtiger für die Identitätsbildung war und ist die Vergangenheitsbeschwörung. Der Rückgriff erfolgt auf Zeiten, die mit dem Landesnamen noch gar nichts zu tun haben konnten, dafür mit großer deutscher Geschichte. Drei Millionen Euro kostete 2012 die Magdeburger Landesausstellung „Otto der Große und das Römische Reich“. „Wir möchten, dass die Menschen erkennen, in welch lange Läufe der Geschichte wir eingebettet sind“, erklärte der Direktor des Kulturhistorischen Museums, Matthias Puhle, damals.

Heiligtum in Stonehenge-Dimensionen

Die Himmelsscheibe von Nebra bekam ein Heiligtum in Stonehenge-­Dimensionen. In frischer Erinnerung ist noch der Riesenhype um 500 Jahre Reformation in Wittenberg oder das Bauhaus-Jubiläum 2019. Stolz ist das Land zu Recht auf seine sechs Unesco-Welterbestätten.

Eine ungewollte aktuelle Allianz zwischen SPD und AfD zeigt, dass dieses Engagement für das Landeserbe nicht unumstritten ist. Beide bemängeln, dass Mittel aus dem Kohle-Umstrukturierungs-Fonds für den Naumburger Dom und das Wörlitzer Gartenreich abgezweigt worden sein sollen. Mit der Gegenwartskunst tut sich Sachsen-Anhalt schon schwerer. Theater und Orchester haben schmerzhafte Kürzungsrunden hinter sich.

Unter den Publikationen des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt entdeckt man zwar vieles zu historischen Details, aber keine Gesamtschau zur Identitätsproblematik. Geschäftsführerin und Ethnologin Annette Schneider-Reinhardt macht sich darüber auch keine Sorgen. Vor allem Jüngere hätten „kein Problem mit der Landesidentität“. Diese Erörterung sei überhaupt mehr „eine Zuschreibung von außen“. Wie anderswo auch würden Selbstzuordnungen zuerst regional erfolgen.

So gesehen erscheinen Kampagnen zur Erweckung eines sachsen-anhaltischen Nationalbewusstseins müßig. Wichtiger sind positive Erfahrungen der Bürger, die dem Bindestrichland aus der gefühlten Defensive heraushelfen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Zitat: „Beim [...] Online-Meinungsbarometer [...] erhärteten die Teilnehmer in diesem Mai das Schlusslicht-Dauerimage ihres Landes. 69 Prozent der jungen Menschen halten dieses für unattraktiv. Im Vergleich mit Sachsen und Thüringen wird Sachsen-Anhalt auch bei Gewerbeansiedlungen, medizinischer Versorgung, Umwelt- und Klimaschutz oder bei der Anbindung ländlicher Räume am schlechtesten bewertet.“

    Na bravo! Genau das ist das Problem mit Rankings: Damit die einen glänzen können, müssen sich andere die rote Laterne anhängen lassen.

    Und damit der Glanz auch wirklich bis in den letzten Winkel strahlen kann, müssen Umfrageergebnisse wie diese medial flächendeckend breitgetreten werden - auf dass sich eventuelle negative Erfahrungen Einzelner zu einer vermeintlichen Gruppen-Identität verdichten. Super, liebe taz, wie du den Sachsen-Anhalter*innen bei ihrer Identitätsfindung behilflich bist! Wobei - wie viele Leser*innen hast du eigentlich unter den früher Aufstehenden? Ich tippe auf eine Zahl, die kleiner ist als 1. Sonst würdest du dich womöglich etwas erkennbarer um diese Menschen bemühen.

    Merke: Wenn es schon keinen König gibt, auf den der brave Untertan sich etwas einbilden mag, dann kann der Möchtegern-Führer von heute wenigstens für einen gewissen „Erlösungsbedarf“ sorgen, der sich in ein „volatile[s] Wählerverhalten“ umwandeln lässt, das wiederum Macht legitimiert. So viel Traditionsbewusstsein muss schon sein, nicht wahr? Auch und gerade im „Bindestrich-Land“ Sachsen-Anhalt. Beziehungsweise auf dessen Kosten.

    • 9G
      90118 (Profil gelöscht)
      @mowgli:

      Ein kleines Outing: ich bin die Nummer eins.

  • Sachsen-Anhalt ist nach meinen Erfahrungen hier vor allem in Nord und Süd gespalten:



    - im Norden ein eher brandenburgisch geprägter Dialekt, im Süden sehr sächsisch klingend



    - schon 2016 gewann die AfD vorwiegend in südlichen Wahlreisen, der Norden war mehrheitlich von der CDU gewonnen (bis auf wenige Ausnahmen)



    - im Norden sind Braunschweig/Hannover/Wolfsburg oder der Berliner Raum große "Magneten", im Süden ist es die Boomtown Leipzig



    - die Wälder und Äcker im Norden sowie Bergbau und Chemie-Industrie im Süden wurden ja schon erwähnt

    Was allerdings fehlt in der Nord-Süd-Teilung: die Berglandschaft Harz, die mit Städten wie Wernigerode oder Quedlinburg touristisch interessant ist und die "Bauhaus-Stadt" Dessau. Diese beide Regionen sind für mich irgendwie "dazwischen".

    Zur Anmerkung: Ich bin Ende der 00er Jahre als Student nach Sachsen-Anhalt gekommen und hier (Magdeburg) mittlerweile meine Wahlheimat gefunden.

  • Gruppenidentitäten sind immer etwas merkwürdig und oft auch problematisch. Aus der Verwaltungseinheit Bundesland Identitätsbildung zu betreiben ist aber einfach nur provinziell und peinlich, auch in anderen Bundesländern.

  • Ich halte auch das Nögeln für das Problem. In 2021 Identifikation an zweifelhafte Helden und Epochen der Vergangenheit zu hängen erscheint mir zu dünn für eine zugewandte Lebenshalung.

  • Vielen Dank für den gut recherchierten und gut geschriebenen Artikel!



    Interessant und aufschlussreich für mich.

    • @Diogeno:

      "Vielen Dank für den gut recherchierten und gut geschriebenen Artikel!" Im Ernst?;)

      Was ist ein "hoher Erlösungsbedarf"? Wo ist solches je beschrieben worden?

  • nun ja, die mangelnde Greifbarkeit von Sachsen Anhalt, kann ich nur bestätigen, aber AFD und Nazis sind nicht nur in Sachsen Anhalt ein Problem, auch in Sachsen mit seiner "gefestigten" Identität besteht dieses Problem in der selben Größenordnung, ebenso in Thüringen...



    nein, an mangelnder "Identifikation" kann es nicht liegen, da liegt das Problem schon eher im wirtschaftlich, sozialem Bereich.



    Vielleicht (um einmal nicht-evidenzbasiert und rein subjektiv gefühlt zu argumentieren) auch in einem ausgeprägtem Hang zum Nörgeln und Griesgrämen, das war dort schon immer so (kann ich aus familiärer Erfahrung behaupten), besonders optimistisch und zukunftsfroh war die Stimmung da auch zu DDR Zeiten nie...

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    Umweltschutz, Städtebau, Verkehrspolitik, Landwirtschaft - bei all diesen Themen wird durch die schwarze CDU (die mangels prosperierender Wirtschaft lediglich ideologisch agiert) jede Verbesserung der Situation verweigert.



    Für oder gegen wen auch immer.



    Trotzdem wird aus Protest dagegen die AfD gewählt.