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Sicherheitskräfte sichern Mitte April das Lager al-Hol, in dem Angehörige mutmaßlicher IS-Kämpfer untergebracht sind Foto: Delil Souleiman/afp

IS-Gefangene in SyrienDie Kinder des Kalifats

Im syrischen Lager al-Hol leben Tausende Frauen und Kinder ehemaliger IS-Kämpfer. Viele von ihnen halten am Kampf des Gottesstaates fest.

D ie Sol­da­t*in­nen stehen in Tarnfleck und schusssicheren Westen unter der sengenden Sonne, das Gesicht zum Stacheldraht, der das Flüchtlingslager al-Hol eingrenzt. Sie tragen schwarze Helme und Sturmhauben, in den Händen Schutzschilde und Schlagstöcke. Vor ihnen sitzen Frauen, in schwarze Abayas gehüllt, wie gesichtslose Gestalten – Dutzende sind es. Einige haben kleine Plastikstühle und Regenschirme mitgebracht, die sie zwar vor der Sonne, doch nicht vor der Hitze schützen. Kinder mischen sich unter sie. Hinter ihnen, jenseits des Stacheldrahts, liegt eine dürre Ebene aus Sand, Geröll und verdorrtem Wüstengras.

Seit knapp drei Stunden sitzen sie dort, zwischen Staub und Steinen. Und genauso lange stehen die Militärs in Vollmontur vor ihnen, den Blick auf die stille Frauenmenge gerichtet. Unterdessen, nicht mal hundert Meter weiter, durchsuchen Amanus Kobani und sein Team die Zelte der Frauen im Annex.

Annex, das ist zum Schreckenswort für die Kur­d*in­nen geworden, die das Lager al-Hol betreiben. Hier leben die Frauen und jüngeren Kinder von ehemaligen Foreign Fighters des „Islamischen Staates“. Die Foreign Fighters, das sind diejenigen Kämpfer, die während des syrischen Bürgerkriegs aus Pakistan, Usbekistan, aber auch aus England und Deutschland nach Nordsyrien kamen, um ihren Kalifatstraum auszuleben, ihn zur Not mit Waffengewalt zu erzwingen. Es sind die ideologisch motivierten, die gut ausgebildeten – also die gefährlichsten.

Verschleierte Frauen und Mädchen im Lager: Einige Familien bereiten sich auf die Rückkehr in ihre Heimatorte vor Foto: Orhan Qereman/reuters

Annex ist zum Schreckenswort geworden

Kobani trägt Helm, Balaklava und eine kugelsichere Weste mit den gekreuzten Schwertern, dem Symbol der kurdischen Antiterror-Eliteeinheiten YAT, auf der schwarzen Uniform. In den Händen hält er ein etwas abgenutztes Maschinengewehr, eine Hand auf dem mit Bandage überzogenen Griff und den Zeigefinger neben dem Abzug.

Neben ihm steht eine Frau mit Sturmhaube und langen Haaren unter dem Hightech-Helm, die Hände auf der schusssicheren Weste, aus der verschiedene Mikrofone und Geräte herausragen. Zu müde sei sie, um Fragen zu beantworten, sagt sie mit einem Seufzen und geht zurück in das Zelt, in dem ihre Kol­le­g*in­nen gerade Taschen und Boxen inspizieren.

Lager-Chefin Jihan Hanan ist der Meinung, dass alle in al-Hol in ihre Heimat zurückgeschickt werden sollten Foto: Serena Bilanceri

Ein Soldat öffnet mit einem gut 20 Zentimeter langen Messer eine überdimensionale schwarze Plastiktüte, ein anderer kontrolliert die draußen aufgehängten Teppiche. IS-Terroristen waren berüchtigt dafür, Sprengstoff in Alltagsgegenständen zu verstecken. Teppichen, Matratzen, Schuhen, Lichtschaltern. Ein weiterer Militär öffnet den neben dem Zelt aufgestellten Wassertank und lehnt sich mit dem Gesicht über die Öffnung, schaut ins Innere des Behälters und schraubt dann den schwarzen Plastikdeckel wieder zu.

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Waffen suchen sie, vornehmlich. „Wir konnten heute Morgen noch nichts finden“, sagt Kobani mit heiserer Stimme. Doch die Suche geht weiter. Seit zwei Tagen hält die Sicherheitsoperation, Razzia könnte man sie nennen, im Flüchtlingslager al-Hol an. Die YAT-Einheiten, die sie gerade durchführen, sollen vor Jahren von der CIA für den Kampf gegen die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) ausgebildet und ausgerüstet worden sein – wenngleich die USA dies nie offiziell bestätigt haben. Die Spezialkräfte hätten mitbekommen, dass IS-Sympathisant*innen Waffen im Annex versteckten.

al-Hol gleicht einem armseligen Campingplatz

Bei der Razzia darf die taz exklusiv dabei sein, ausländische Medien sind in der Regel bei diesen Einsätzen nicht zugelassen. Gestattet wird meistens eine Fahrt entlang der Begrenzungslinie, außerhalb des Stacheldrahts, was einen Beigeschmack von Menschenzoo-Besuch hinterlässt. Die Menschen innerhalb des Areals seien zu gefährlich. Ein Soldat warnt davor, dass Kinder Steine auf Fremde werfen. Mit den schweigenden Frauen zu reden, ist auch der taz nicht erlaubt.

Die dicht aneinandergedrängten Zelte, die die Wüste wie ein armseliger Campingplatz unterbrechen, sind weiß und cremefarben, die Plastikplanen notdürftig mit Seilen und Nägeln am Boden befestigt. Neben dem Zelt, das gerade durchsucht wird und in dem eine Familie schläft, steht eine kleine Küche, ein Einzelraum aus Ziegeln. Draußen wartet ein beiger Panzerwagen auf die Streitkräfte, zwei Soldaten in Camouflage und mit OP-Masken über dem Mund lehnen entspannt an dem Fahrzeug. Noch tagelang werden sie im Flüchtlingslager nach IS-Schläferzellen suchen.

Die Ideologie des tot erklärten Kalifats lebt im Annex weiter, sagen die kurdischen Behörden. Die Mütter gäben sie an ihre Kinder weiter, in ihren Behausungen mitten in der Wüste Nordostsyriens, sagt der Sprecher der kurdischen YPG-Streitkräfte Siamand Ali. Wer sich davon distanziert, wer mit der Zeit gemäßigter wird, der werde von den Hard­li­ne­r*in­nen angegriffen, sagen NGO-Mitarbeiterinnen, die anonym bleiben möchten. Als Bestrafung für Abtrünnige seien schon Zelte angezündet worden.

„Diese enge Jeans ziehe ich nicht an, wenn ich in den Annex gehe“, erzählt eine junge Frau, die in al-Hol für eine Nichtregierungsorganisation arbeitet, und zeigt Bilder von sich selbst im Lager, unter einer langen, schwarzen Abaya, umgeben von vollverschleierten Frauen. Die junge Frau und einige Kolleginnen sitzen in einem Café in der 40 Kilometer entfernten Stadt Hasakah, trinken Saft und rauchen Shishas mit Minz- und Apfelgeschmack. Alle tragen bunte Kopftücher. „Wir sind auch Musliminnen, aber die Frauen dort nennen uns Kuffar, „Ungläubige“, sagt eine von ihnen laut, um die arabische Musik im Raum zu übertönen. „Sie warten auf die Rückkehr des Kalifats.“

Zwischen 5.000 und 6.000 Frauen und Kinder wohnen im Annex. Sie kommen aus Usbekistan, aus England, aus Pakistan. Mehr als 40 Nationalitäten sollen dort vertreten sein. Darunter auch drei Familien aus Deutschland, insgesamt neun Personen. In dieser Ödnis leben die Frauen weiter unter sich. So, wie sie in den letzten Tagen des IS-„Kalifats“ gelebt haben. Wasser und Nahrung bekommen sie von NGOs. Bei medizinischen Notfällen werden sie, sofern genehmigt, in Kliniken eskortiert.

Im Lager mangelt es an vielem, aber nicht an Gewalt

Deradikalisierungsprogramme gibt es nicht. Psychologische Hilfe wird selten angenommen. Aus Furcht, stigmatisiert zu werden im Lager. Aus einem Misstrauen heraus gegenüber allem, was als „westlich“ gilt. Ausbildungen, etwa als Friseurin oder Näherin, die NGOs anbieten, müssen sich den strikten Sicherheitsregeln anpassen. Scharfe Scheren etwa würden aus Sicherheitsgründen konfisziert, sagen die Mitarbeiterinnen. Gemeinschaftszentren gibt es wenige, Schulen ebenso. „Gleich null“ sei die Bildung, die die Kinder von al-Hol bekommen, so die NGO-Mitarbeiterinnen. Sie wachsen in einer öden Wüste auf, der aber ein guter Nährboden ist für extreme Gedanken.

Sobald die Söhne 13 Jahre alt sind, nähmen die kurdischstämmige Sol­da­t*in­nen sie ihren Müttern weg, brächten sie zu sogenannten Erziehungszentren und gelegentlich auch in Gefängnisse außerhalb des Lagers. Damit sie sich nicht weiter radikalisieren und selbst Familien im Lager gründen, in denen die IS-Ideologie weiterlebt. Jihan Hanan, die Direktorin von al-Hol, bestreitet jedoch, dass dies noch geschehe. „Es gab einige Medienberichte, die uns vorwarfen, Kinder von den Müttern zu trennen“, sagt sie.

Hanan spricht von „Erziehungs- und Deradikalisierungsmaßnahmen“, aber einer konkreten Antwort, ob die Medienbericht stimmen, weicht sie aus. Und jetzt, sagt sie, seien die Kapazitäten für Maßnahmen eh erschöpft. Diese Kinder wachsen meist ohne Väter auf, die in der Regel entweder tot sind oder in Haft. Die Jugendlichen werden zu Männern in einem Gefängnis, das sie nur in den seltensten Fällen verlassen dürfen. Einige haben nur diesen trostlosen Ort von der Welt gesehen, andere haben davor noch Krieg und Tod erlebt.

Im Wüstenlager mangelt es an vielem, aber nicht an Gewalt. Sicherheitskräfte würden die Frauen im Annex harsch behandeln, denn diese drohten ihnen oft mit dem Tod, sagen die Helferinnen. Die Sol­da­t*in­ne müssen jetzt die Verwandten der Männer bewachen, die ihre Freunde und Angehörigen gefoltert, vergewaltigt und getötet haben. Hel­fe­r*in­nen der NGOs berichten von Fällen sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Lager. Und die Gesundheitslage ist ebenso schlecht: Immer wieder gibt es Ausbrüche von Cholera.

Lager-Chefin Hanan, eine Frau in ihren 40ern mit langen, schwarzen Haaren und beiger Turnjacke, spricht langsam und bedacht über den IS und den Mangel an Ressourcen im Lager.

Die Lage ist angespannt. In den Wochen vor der Razzia hatte die NGO Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte immer wieder Angriffe auf Soldat*innen, Checkpoints und Zi­vi­lis­t*in­nen durch IS-Anhänger vermeldet.

Der IS ist laut YPG-Sprecher Ali jetzt um das Zehnfache stärker als noch im Dezember. Das Sicherheitsvakuum im nördlichen Gebiet, das der Abzug der russischen und iranischen Streitkräfte nach dem Fall Assads hinterlassen hat, konnten die kurdischen Milizen nicht vollständig ausfüllen, denn sie waren bis dahin an der Front gegen die Türkei und deren Alliierte in Syrien beschäftigt. Die Waffen, die Assads Truppen hinterlassen haben, seien in die Hände des IS gefallen. Drei Angriffe habe es allein diese Woche gegeben, zählt Ali auf. „Al-Hol sowie auch die anderen Lager sind einer der Gründe, weswegen der Daesch noch existiert.“ Mit „Daesch“ meint er die Terrororganisation und drückt damit seine Verachtung aus.

So wie der Annex ist das gesamte Lager al-Hol ein Knast

In einem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) von 2022 organisierten die Frauen zu der Zeit im Lager eine Art Sittenpolizei wie zur Zeit des Kalifats. Sie sollen nicht nur Zelte abgebrannt, sondern auch diejenigen gefoltert und getötet haben, die sich ihnen widersetzen. Immer wieder berichteten Medien über IS-Propaganda-Postings in den sozialen Medien, die von den Bewohnerinnen des Annex stammen sollen.

„Meiner Meinung nach sollten sie alle in die Heimat zurückgeschickt werden. Aber es ist schwierig, denn jeder, der hier lebt, hat einen anderen Background, eine andere Mentalität“, sagt sie und erzählt weiter: „Manche wollen nicht zurück, weil sie in ihrer Heimat gesucht werden, andere halten noch an der IS-Ideologie fest und wollen hierbleiben.“ Eine pakistanische Frau im Annex habe ihr gesagt, sie wolle nicht weg, denn so – mit schwarzem Gesichtsschleier – könne sie sich in ihrer Heimat nicht anziehen. Auf die Frage, was sie denn in Zukunft tun wolle, antwortete sie, sie habe einen Plan – wolle den aber nicht verraten.

Gut 16.000 Syrer*innen, 13.000 Ira­ke­r*in­nen und 6.000 weitere Aus­län­de­r*in­nen wohnen im gesamten Lager. 35.000 Menschen, größtenteils Frauen und Kinder. Sie kamen, als das letzte Bollwerk des Kalifats fiel, die kleine Grenzstadt Baghuz im Osten des Landes. 2019 war das, und die syrisch-kurdischen SDF-Einheiten, unterstützt durch Luftangriffe der internationalen Koalition unter Führung der USA, konnten nach kräftezehrenden Guerrillakämpfen die letzte IS-Bastion zurückerobern. Die Familien, die in den Monaten vor dem Fall von dort aus flohen, sind wahrscheinlich Angehörige von IS-Kämpfern. Wie viele von ihnen enge Beziehungen zur Terrororganisation selbst unterhielten, ist unklar.

Genug Personal und nicht genug Unterstützung

Mehr als 1.000 Po­li­zis­t*in­nen und etwa 1.000 Zi­vi­lis­t*in­nen arbeiten in al-Hol. Genug Personal, aber dennoch nicht genug Unterstützung, sagt Hanan. Es ist kein Geheimnis, dass die von US-Präsident Donald Trump beschlossenen Einschnitte bei den Auslandshilfen die Lage in al-Hol negativ beeinflusst. Nicht unbedingt die Verwaltung, wohl aber die NGOs, die in dem Lager arbeiten, betrifft das. Ein Helfer, der anonym bleiben möchte, berichtet, er habe seinen Job deswegen Ende Januar verloren. Sein Verein kümmert sich um die Eingliederung von Ex-Bewohnerinnen in die Gesellschaft. Global nimmt die Finanzierung von Hilfsprojekten insgesamt ab: Der Norwegische Flüchtlingsrat wird wegen fehlender Mittel ebenfalls ein Bildungszentrum in al-Hol schließen.

Hasan scheint müde, immer wieder mit Medien über dieselben Probleme zu reden, gegen Windmühlen anzukämpfen. Sie bietet schwarzen Kaffee an, Schokoladenpralinen liegen in ihrer schimmernden Folie neben den kristallenen Aschenbechern. Der IS versuche immer wieder, Familien aus dem Lager zu schmuggeln. Und manchmal schaffe er es auch. Wo diese Frauen und Kinder dann landeten – ungewiss.

So wie der Annex ist das gesamte Lager al-Hol ein Knast. Eine kleine Zeltstadt, deren weiße Planen so dicht aneinandergedrängt sind, als wären sie ein einziger Ozean aus Nylon, mitten in einer Weite aus staubiger Erde und Geröll. Das nächstgelegene Dorf, al-Hol, ist eine ländliche Gemeinschaft. Männer, Frauen und sogar Kinder hacken die gelockerte Erde am Straßenrand oder lassen die Schafe weiden, die Häuser sind zumeist würfelformige Bauten aus nackten Ziegeln oder aus Schlamm gebaut, so sandfarben wie die Erde unter ihnen. Bis zur nächsten Stadt Hasakah sind es acht Checkpoints und 40 Kilometer Luftlinie.

Das Flüchtlingslager entstand in den 90er Jahren, wurde von irakischen Geflüchteten genutzt und dann, im Zuge des syrischen Bürgerkriegs, von Syrer*innen, Ira­ke­r*in­nen und weiteren Ausländer*innen. Vor wem sie flohen, das ist eine der zentralen Fragen und auch eine, die für Außenstehende schwer zu beantworten ist. Vor den Schurken des IS? Oder doch vor den Kugeln der Kurdenkoalition? Vor den Bomben Assads? Oder den amerikanischen?

Diese Ungewissheit erschwert die Rückkehr der Geflüchteten in ihre Heimatländer – denn niemand weiß, wie gefährlich die Menschen im Lager al-Hol tatsächlich sind. Was verbirgt sich hinter den Frauen, die schweigend in schwarzen Gewändern unter der Sonne sitzen?

Viele Staaten zögern, ihre Mitbürgerinnen zurückzuholen, auch Deutschland. 1.150 Is­la­mis­t*in­nen verließen laut Innenministerium bis 2019 die Bundesrepublik in Richtung Kalifat, zogen in den Heiligen Krieg, Frauen waren auch dabei. Sie sollten Nachwuchs zeugen, die Kämpfer bei Laune halten, übernahmen aber teilweise auch deutlich aktivere Rollen bei Tötungen und Folterungen. Beispielhaft ist der Fall der 27-jährigen Jennifer W. aus Lohne, die eine fünfjährige versklavte Jesidin in ihrem Hof im irakischen Falludscha verdursten ließ.

Von diesen 1.150 Is­la­mis­t*in­nen aus Deutschland sollen fast 300 im Ausland gestorben sein, 460 sind zurückgekehrt. Gut 400 halten sich noch in Syrien, Irak oder der Türkei auf. Knapp 750 waren laut Innenministerium vermutlich in Kampfhandlungen involviert. Aus dem Auswärtigen Amt heißt, eine Rückholung der Männer aus der Haft in Nordostsyrien sei nicht geplant.

Bei den Frauen und Kindern sei dies möglich, aber nur auf freiwilliger Basis und nach Überprüfung des Falls. Dennoch sind mehrere Tausend Geflüchtete bereits aus al-Hol in ihre Heimatländer oder in ihre Heimatstädte in Syrien zurückgebracht worden. Drei Tage vor unserem Besuch Mitte April verließen 850 Menschen das Lager in Richtung Irak. Es sind alles freiwillige Rückkehrer*innen, die genug hatten vom Leben im Lager.

„Doch wir öffnen nicht einfach so die Tür und lassen sie herausspazieren, wir haben Abkommen mit der irakischen Regierung. Und überprüfen die Syrer*innen, die in ihre Heimatstädte zurückkehren wollen“, sagt YPG-Sprecher Siamand Ali auf die Frage, ob er keine Angst habe, dass sich kampfbereite Ter­ro­ris­t*in­nen unter ihnen verstecken könnten. Ali, ein schmächtiger, lächelnder Mann in Camouflage und mit grauen Haaren, steht an diesem Tag im April vor den noch leeren Mikrofonen der Re­por­te­r*in­nen im Flüchtlingslager. Später wird er die Ergebnisse der Razzia des Tages bekanntgeben.

Im März haben SDF-Kommandeur Mazloum Abdi und Syriens Präsident Ahmed al-Scharaa ein Abkommen unterzeichnet. Demnach sollen die SDF in die syrische Armee übergehen und alle Institutionen im Nordosten Syriens von der Zentralregierung in Damaskus übernommen werden. Noch ist unklar, wie das praktisch umgesetzt werden soll. Gleichzeitig wollen die USA laut Medienberichten mehr als 1.000 Sol­da­t*in­nen aus Syrien abziehen, was Anti-Terror-Expert*innen besorgt.

Große Sorge auf kurdischer Seite

Aus gut informierten Kreisen ist zu hören, dass große Sorge auf kurdischer Seite herrscht vor einer eventuellen Übernahme von al-Hol durch die syrische Armee. Offenbar schreckt die dschihadistische Vergangenheit al-Scharaas sowie die radikale Mentalität einiger seiner Soldaten und Verbündeter die Kur­d*in­nen ab. Die Angst ist groß, dass ehemalige IS-Kämpfer auf freien Fuß kommen könnten. Al-Scharaa selbst hat sich mehrfach von seiner radikalen Vergangenheit distanziert.

Während die Razzia im Annex fortschreitet, geht das Leben auf dem zentralen Markt des Flüchtlingslagers weiter. Durch die staubigen Gassen zwischen den Zelten laufen vollverschleierte Frauen in Schwarz, nur die Augen sichtbar, sowie Kinder und Männer. Einige tragen Eier und Gemüse in der Hand, in der Hitze setzen sich Fliegen immer wieder auf die verschwitzte Kleidung. Ein fauler Geruch liegt in der Luft. Ein Geschäft bietet bunte Langkleider an, die niemand zu kaufen scheint.

Mit dem IS will hier niemand zu tun gehabt haben. Eine Frau mit schwarzem Gesichtsschleier und runzligen Händen schreit aufgeregt: „Niemand hört auf das, was wir sagen!“ Ihr Sohn, einziger Brotverdiener in der Familie, sei bei der Razzia festgenommen worden. Sie schwört, er habe nichts getan. Ob das stimmt, ist fraglich. Sie selbst sei 2018 nach al-Hol gekommen, aus Baghuz, der IS-Hochburg.

Einige Männer klagen, jemand hätte das Chaos der Razzia ausgenutzt, um Sachen aus den Zelten zu stehlen. Eine weitere Frau, Meyan, vollverschleiert und mit löchrigen Handschuhen, beschwert sich, ihre Tochter sei Irakerin, doch mit einem Syrer verheiratet. Als Ausländerin dürfe sie nicht aus dem Lager, und in den Irak dürften ihre Kinder nicht, denn sie haben nur die syrische Staatsangehörigkeit. Ein 31jähriger Mann mit Adidas-Shirt und breitem Grinsen, der Handyzubehör in einem engen Raum verkauft und sich Abu Yusef nennt, sagt, er wolle mit dem nächsten freiwilligen Kontingent zurück in den Irak. Hier, für seine fünf Kinder, sieht er keine Zukunft. Keine guten Schulen, keine guten Jobaussichten.

Derweil sitzen die Frauen und Kinder im Annex weiter unter der Sonne. Am Nachmittag verkündet Siamand Ali vor den Journalist*innen, dass die SDF 16 IS-Männer verhaftet und drei Kalaschnikows, zwei Pistolen sowie Patronen beschlagnahmt haben. Die Razzien werden indes noch Tage weitergehen.

Einige Wochen nach dem Besuch in al-Hol haben die SDF ein Abkommen mit der syrischen Regierung getroffen. Sie wollen die freiwillige Rückkehr von Sy­re­r*in­nen unterstützen. Doch die Aus­län­de­r*in­nen bleiben im Lager, mitten in der Wüste, unter der sengenden Sonne.

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13 Kommentare

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  • Es gibt ja nicht nur diese Lager. Die Kurden werden mit zigtausend IS-Terroristen allein gelassen.

    In Deutschland werden zurückkehrende Terroristen in den meisten Fällen vermutlich nur lächerliche Pillepalle-Strafen zu erwarten haben, wenn überhaupt, da man ihnen nichts nachweisen kann. Auch darf es nicht sein, dass hier lebende Jesid*innen ihren Peinigern und Folterern nochmals begegnen.

    Besser wäre ein Internationaler Strafgerichtshof vor Ort.

    FAZ: "Es ist ein gewaltiger Kraftakt, mutmaßliche Völkerrechtsverbrecher tausende Kilometer entfernt von ihren Heimatstaaten vor Gericht zu stellen. Beweise aus den Kriegsgebieten müssen gesichert und bewertet werden, wobei man auf die Kooperationsbereitschaft der Behörden im Ausland angewiesen ist."

    Vor allem muss man entsprechende Zeug*innen erst mal finden.

    FAZ: "Wir brauchen ein IS-Straftribunal"

    www.faz.net/aktuel...innt-16733469.html

    Der Artikel ist von 2020. Passiert ist seitdem: nichts.

    Außer dass Trump Unterstützung für die Kurden abgezogen hat, so auch Baerbock.

  • Danke für den spannenden Artikel!



    Meine Meinung: Deutschland sollte seine Staatsbürger*innen zurück holen, Ihnen den Prozess machen, wenn es Straftatbestände (Mitgliedschaft in einer Terroristischen Vereinigung zB) gibt und sie in ein personell und finanziell gut ausgestattetes Bildungsprogramm stecken, wo sie mit den betroffenen ihrer Ideologie, mit Jesid*Innen, Kurd*Innen, gemäßigten Muslima in Kontakt treten müssen. Sie dauerhaft in Lager zu stecken ist die Saat für weiteren Terrorismus.

    • @jackie_zat:

      Ich störe mich an Ihrem Ausdruck „gemäßigte Muslima“, denn er impliziert, dass die terroristische Ideologie bezüglich Weiblichkeit, die wahre im Islam sei.

      Muslima ohne Kopftuch oder schwarze Verschleierung sind nicht gemäßigt, sondern vollverhüllte Muslima sind fanatisch und extremistisch.

      So rum wird ein Schuh draus, ubergaipt gibt es im koran keine anordnung oder gottes wunsch nach verschleierung, verstecken oder donstige Entpersonifizierung von Frauen! Selbst die verschiedenen Trageweisen von Kopftüchern oder Gewändern spiegeln lediglich die Kieidungstradition oder die Herrscherstrukturen des Patriarchats der verschiedenen Länder, in denen die Frauen leben.

      S. eindrucksvollstes Beispiel Iran; früher Miniröcke, heute Sittenpolizei. Mit islamischer Praxis hat beides nichts zu tun.

      • @Edda:

        Es gibt sowohl im Koran wie auch den Hadithen genug Belege für die Annahme, Frauen seien nicht ganz so viel Wert wie Männer. Was jetzt als der wahre Islam zu bezeichnen ist, ist eine müßige Diskussion. Genauso wie im Christentum. "Gemäßigt" als Adjektiv stellt in jedem Fall klar, welche Deutung gewünscht ist.

      • @Edda:

        Oh, das stimmt, das war eine bescheuerte Formulierung. So habe ich da noch nicht darüber nachgedacht. Ich danke sehr für den Hinweis!

        • @jackie_zat:

          Gerne.



          Aber davon ab stimme ich Ihnen vollkommen zu, ganz besonders der Idee, die menschenverachtend Verblendeten, mit denen zu konfrontieren, die Leid unter dieser Ideologie erfahren mussten.



          Ob und in welchem Rahmen, dass die Leidtragenden selbst wiederum wollen, ist sicher noch mal eine Frage dazu.

          Und auch, dass sie dort einfach nur in ihrem Parallelwelt-Lager belassen werden -auch da haben Sie absolut recht- ist die nächste Saat dieser zerstörerischen und gnadenlosen Ideologie, die diese verrohten, selbst ernannten Sittenwächter anderen auferlegen. Das muss durchbrochen werden.

          Und außerdem finde ich es auch schlicht frech, seine eigenen Staatsbürger nicht nehmen zu wollen und fremden Ländern zu überlassen mit der Begründung:“Auch wenn’s unsere eigenen sind, auf die haben wir keine Lust mehr, die sind uns zu anstrengend und weil sie glücklicherweise gerade nun mal auf eurem Boden sind, müsst ihr sie nun auch behalten!“ zu sagen.

          Genau darüber beschweren wir uns doch auch, wenn straffällige, offensichtlich zu Extremismus neigende Bürger fremder Länder nicht abgeschoben werden können, weil ihre Heimatländer, sich weigern, sie zu nehmen.

  • "Beispielhaft ist der Fall der 27-jährigen Jennifer W. aus Lohne, die eine fünfjährige versklavte Jesidin in ihrem Hof im irakischen Falludscha verdursten ließ.

    Von diesen 1.150 Is­la­mis­t*in­nen aus Deutschland sollen fast 300 im Ausland gestorben sein, 460 sind zurückgekehrt."

    Was mich mal interessieren würde: Wieviele von diesen 460 Rückkehrern sind wegen den von ihnen begangenen Verbrechen vor Gericht gestellt worden?



    Ist der Fall Jennifer W., die vor Gericht gestellt und verurteilt wurde, die Regel oder die große Ausnahme?

    • @yohak yohak:

      Das Problem ist, wie wollen Sie diese Terroristen vor Gericht stellen? Denen ist doch nichts nachzuweisen. Sie müssten mehrere Jahre IS-Terror in mehreren arabischen Ländern nachweisen. Wann ist wo was passiert? Wer hat wen umgebracht, vergewaltigt, gefoltert, ausgeraubt etc.? Zeugen?

      Hier werden maximal ein paar Monate als Strafe für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu erwarten sein. Gute Gelegenheit um weitere Leute für den IS anzuwerben.

      Das geht nur über ein internationales Strafgericht. Wurde leider vergeigt. Das Problem wurde den Kurden überlassen, die zudem noch Erdogan ausgesetzt waren. Hilfe wurde durch Trump & Co. abgezogen.

      FAZ: "Wir brauchen ein IS-Straftribunal"

      www.faz.net/aktuel...innt-16733469.html

      • @shantivanille:

        Nein, es reicht ein konkreter Fall wie der im Kommentar geschilderte aus. Das reicht schon für 10 bis 15 Jahre.

  • Was soll man mit diesen Menschen machen?



    Andere Menschen haben ein berechtigtes Interesse an Schutz vor solchen Extremisten.

    • @Carsten S.:

      Interessiert niemanden. Die Kurden werden alleine gelassen. In nicht allzu ferner Zukunft wird der Bruder im Geiste und demokratisch gewandte Führer Syriens sich dieser armen Menschen erbarmen und ihnen eine Zukunft in seinem System bieten. Mit deutschen Entwicklungshilfegeldern und tatkräftiger Unterstützung diverser internationaler NGOs. Und irgendwann wird's wieder knallen und alle schlagen die Hände über den Kopf zusammen und sind ganz überrascht.

    • @Carsten S.:

      Wirklich eine sehr schwierige Lage, allerdings kommt mir so die Angst, wenn ich an diese Damen denke und in welcher Weise sie ihren "Erziehungsauftrag" gegenüber ihren Kindern erfüllen.

    • @Carsten S.:

      Ja, schwierig wird die Sache durch die Kinder. Die sind eigentlich unschuldige denen der Hass eingeimpft wird.

      Ich frage mich auch was aus den mal werden soll. Falls man die 13 jährigen Jungen da wirklich noch raus holt und von den Müttern trennt, wird das den schon eingeimpften Hass auch wohl eher nicht mehr verringern.