Humanitäre Hilfe in der Krise: Bloß eine Mahlzeit am Tag
Pandemie, Extremwetter, Konflikte: Der Bedarf an humanitärer Hilfe steigt. Gleichzeitig fehlt es an finanziellen Mitteln – mit dramatischen Folgen.
Dabei waren die Mittel zuletzt gestiegen: Von 2022 an hatten westliche Geber vor allem Zahlungen für die vom russischen Angriff heimgesuchte Ukraine aufgestockt. Doch sowohl diese Sondermittel, also auch Etats zur Bekämpfung der Folgen der Covidpandemie, sind in diesem Jahr ausgelaufen.
Weltweit leiden rund 830 Millionen Menschen unter chronischem Hunger. Für das laufende Jahr hat allein das WFP – das nur eines von vielen Hilfswerken ist – seinen Bedarf auf rund 23 Milliarden Dollar beziffert, um 177 Millionen Menschen mit Unterstützung zu erreichen. Das sind 43 Cent pro Person und Tag. Doch kurz vor Jahresende ist klar: Nur etwa 10 der benötigten 23 Milliarden sind zusammengekommen, also 17 Cent pro Person und Tag. Es ist das erste Mal in der gut 60-jährigen Geschichte des WFP, dass zwischen Bedarf und vorhandenen Mitteln eine so große Kluft besteht.
Erschwert wird die Arbeit der Helfer:innen dadurch, dass immer neue Konflikte hinzukommen. 2023 sind der Krieg in Gaza sowie der Bürgerkrieg im Sudan neu aufgeflammt. Rund fünf Millionen Menschen zusätzlich wurden allein in dem afrikanischen Land vertrieben, etwa 20 Millionen der 45 Millionen Einwohner:innen sind auf Hilfe angewiesen – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. „Für uns stellt sich jedes Mal die Frage: Wo priorisieren wir, wo werben wir neue Gelder ein?“, sagt Rentsch.
Überschuldung infolge der Pandemie
Auch die Klimakrise schafft konstant neue Notlagen. In Ostafrika etwa fielen mehrere Regenzeiten in Folge aus, nun plagen extreme Regenfälle die Region. Hinzu kommt, dass sich viele arme Länder während der Pandemie überschuldet haben. Nicht alle können die Schulden bedienen. Eine Folge: Die jeweilige Währung verliert und in nationalen Devisen können noch weniger Güter, etwa für den Lebensmittelimport, auf dem Weltmarkt eingekauft werden. Die Bevölkerung hungert und ist auf Hilfe angewiesen.
Doch durch die hohe Inflation ist es für die Hilfsorganisationen immer teurer geworden, Hilfsgüter zu kaufen, auch wenn etwa der Weizenpreis zuletzt wieder stark fiel. Das bevölkerungsreiche Nigeria etwa verzeichnet 2023 eine Inflationsrate von rund 19 Prozent, im Jemen sind es fast 44, in Sri Lanka rund 48 Prozent.
Im Jahr 2017 lag der Anteil der weltweit Hungernden auf einem historischen Tief von etwa 7,6 Prozent, seither steigt er. Derzeit hat etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung nicht genug zu essen. Doch das müsste nicht sein: „Es gibt absolut keinen Grund, warum Menschen heute verhungern sollten“, sagt Brian Lander, der Vizedirektor des WFP. „Es gibt genug Nahrung auf der Welt, um alle zu ernähren.“
Gleichwohl spricht etwa die UN-Ernährungsorganisation FAO in Afrika von einer „beispiellosen Nahrungsmittelkrise“. Der WFP-Landesdirektor für Sudan, Eddie Rowe, sagt, dass vor allem wegen des Krieges nun auch während der Erntesaison von Oktober bis Februar schon Hunger in dem ostafrikanischen Land herrsche. Dabei sei dies die Zeit, in der mehr Nahrungsmittel verfügbar seien. In der im Februar folgenden „mageren Zeit“ vor der nächsten Ernte drohe dann Hunger in katastrophalem Ausmaß. Immer mehr Menschen hätten gerade mal eine Mahlzeit am Tag. „Und wenn sich nichts ändert, besteht ein hohes Risiko, dass sie noch nicht einmal dies haben werden“, ergänzt Rowe.
Auch in Teilen Asiens müssen mehr Menschen Hunger leiden als vor der Pandemie. Zuletzt lag der Anteil der Unterernährten in dieser Weltregion bei 8,4 Prozent – das sind 55 Million Menschen mehr als vor Corona. Die Pandemieauswirkungen, hohe Preise für Grundnahrungsmittel, Dünger und Tierfutter sind laut FAO dafür die Ursache. Bewaffnete Konflikte, der Klimanotstand und zusammenbrechende Volkswirtschaften hätten viele Menschen ins Elend gestürzt. Die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft halte aber nicht mit dem Bedarf Schritt, beklagt der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe, Martin Griffiths.
Vorzeichen für 2024 „noch düsterer“
Von den insgesamt von allen UN-Hilfsorganisationen für 2023 benötigten 56,7 Milliarden Dollar sei nur ein gutes Drittel zusammengekommen, so Griffiths. Die Folgen sind tragisch: In Afghanistan etwa hätten zwischen Mai und November zehn Millionen Menschen den Zugang zu Nahrungsmittelhilfe verloren. Im Jemen hätten 80 Prozent der Bedürftigen, denen Hilfe in Aussicht gestellt war, weder Wasser noch Toiletten bekommen. In Myanmar hätten anders als geplant keine besseren Unterkünfte für eine halbe Million Vertriebene gebaut werden können.
Und 2024 sind „die Vorzeichen noch düsterer“, sagt Martin Rentsch vom Welternährungsprogramm, „Wir erwarten signifikant weniger Geld als 2022.“ Bei vielen großen Gebern ist der finanzielle Spielraum kleiner geworden. Das schwache Wirtschaftswachstum wirkt sich auf die Steuereinnahmen aus. Viele Geberstaaten nehmen weniger Geld ein.
In Deutschland wurden bei der Bereinigungssitzung zum Bundeshaushalt im November die Mittel für humanitäre Hilfe noch aufgestockt. Vor allem auf Betreiben der Grünen kamen zunächst 700 Millionen hinzu. Doch kurz darauf folgte der Karlsruher Richterspruch zum Klima- und Transformationsfonds (KTF), der die Ampelkoalition zu Haushaltskürzungen verdonnerte. Der Entwicklungshilfedachverband Venro geht nun davon aus, dass die jüngsten Vereinbarungen der Ampel zum Haushalt zusätzliche Kürzungen von 400 Millionen Euro beim Entwicklungshilfeministerium (BMZ) und rund 200 Millionen beim Auswärtigen Amt vorsehen. Insgesamt können die beiden Ministerien rund 1,7 Milliarden Euro weniger ausgeben. Für die humanitäre Hilfe bedeute dies ein Minus von etwa 400 Millionen Euro, so Venro.
Auch andere Staaten geben weniger – mit absehbaren Folgen: In Afghanistan etwa werden nach Einschätzung der Kinderrechtsorganisation Save the Children rund 16 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – bis März von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. Fast die Hälfte davon sind Kinder. Das von den Taliban kontrollierte Land habe 2023 dreimal hintereinander die Kürzung der Nahrungsmittelhilfe hinnehmen müssen. Gleichwohl ist Deutschland zweitgrößter Geber in dem Land.
Angesichts der absehbaren Zahlungsflaute haben die UN ihre Ziele für 2024 weltweit gestutzt: Sie planen für das kommende Jahr nicht mehr mit Hilfe für 245 Millionen Menschen, sondern nur noch für 181 Millionen. „Wenn wir 2024 nicht mehr Hilfe zur Verfügung stellen“, befürchtet Koordinator Griffiths, „werden Menschen dafür mit dem Leben bezahlen“.
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