Honigsüß und öde: Das Gefühl des Getragen­werdens

Das Schöne im Leben ist: Nichts Schlimmes bleibt für immer. Das Schlimme im Leben ist: Nichts Gutes bleibt für immer.

Eine Frau trägt ein Kind

Kinder werden ihre Eltern hoffentlich irgendwann in Frage stellen Foto: Ekaterina Yakunina/imago

Das Schöne im Leben ist ja: Nichts Schlimmes bleibt für immer. Das hat mir das vergangene Jahr gezeigt: Wehen dauern maximal ein, zwei Tage, in Nächten ohne Schlaf hab ich mich selbst damit bei Laune gehalten, dass meine Tochter in nur wenigen Jahren ihre Kinderzimmertür zuschmettern wird, weil sie ihre Ruhe möchte.

Das Schlimme im Leben ist: Nichts Gutes bleibt für immer. Meine Tochter wird uns nicht immer bedingungslos lieben, sie wird uns – hoffentlich! – irgendwann infrage stellen, aber vielleicht auch einfach uninteressant finden.

Ob sie später mal einen Grund sieht, uns anzurufen, außer dem, dass wir ihre Eltern sind, ist nicht sicher. Es wird davon abhängen, ob wir es schaffen, eine Bindung zu ihr aufzubauen, die über das Begleiten auf dem Weg in ihr eigenes Leben hinausgeht. Vielleicht auch davon, ob wir übers Elternsein hinaus interessante Menschen bleiben, mit denen sie sich gerne unterhält.

Aber auch andere schöne Gefühle vom letzten Jahr – etwa, dass die Ära Trump endlich vorbei ist – waren natürlich flüchtig. Schon zum ersten Jahrestag des Sturms seiner Anhänger aufs Kapitol rüttelt auch die Sorge schon wieder an den inneren Bewusstseinabsperrungen, dass er in drei Jahren noch einmal US-Präsident werden könnte.

Schwurbler und Verschwörungsanhänger

Und selbst wenn nicht, sind seine Anhänger mit ihm nicht verschwunden. So wie die Schwurbler und Verschwörungsanhänger hierzulande nicht verschwinden werden, wenn die Pandemie abflaut. Was sie mit den Trump-Fans verbindet, ist ein tiefes Misstrauen in den demokratischen Staat, gerne mystifizierend umschrieben als „die Eliten“.

Warum Menschen, wann immer dieser Staat etwas tut, das nicht in ihre persönliche Lebensanschauung passt, sich gleich gegängelt und manipuliert fühlen und sich zum antiautoritären Widerstand gezwungen sehen (gegen ein System, das ihnen genau diesen Widerstand in fast jeder Form erlaubt, sogar Massendemos mitten in einer Pandemie), ist eher eine Frage für Psychotherapeuten.

Manchmal wünsche ich mir, es gäbe tatsächlich Therapien für ganze gesellschaftliche Gruppen, die narzisstischen Hyper-Individualismus und antisoziales Verhalten genauso behandeln könnten wie kollektive Traumata oder Schuldabwehr und -umkehr. Bitte nicht falsch verstehen, liebe Impfgegner, dabei ginge es, wie in jeder normalen Therapie auch, nicht darum, euch zu leicht regierbaren Bürgern zu machen, sondern lediglich darum, die Verantwortung für ein gutes Leben in der Gesellschaft bei euch selbst zu suchen.

Also: Meinetwegen lasst euch nicht impfen, aber lebt dann mit den Konsequenzen, etwa keine Restaurantbesuche. So wie jeder sich für oder gegen alles entscheiden kann. Nur halt ohne erwarten zu können, dass der Staat oder Mama und Papa oder der Partner die unbequemen Folgen abpuffert und applaudiert. Wär doch öde, wenn das Leben der immerselbe Fluss aus Milch und honigsüßem Getragenwerden bliebe, das es als Kind ist.

Ausmaß des linken und postkolonialen Antisemitismus

Ein bisschen findet sich diese Trag-mich-Haltung auch in den an- und abflauenden Debatten, denen man als Journalist hinterherhechelt. Gerade wieder zu beobachten an der wahrscheinlich noch weiter anflauenden Debatte über das vom Kuratorenkollektiv der documenta 15 ruangrupa eingeladenen palästinensischen Künstlerkollektivs The Question of Funding. Das wurde, allerdings bislang nur in einem anonymen Blogbeitrag des Kasseler Bündnisses gegen Antisemitismus, als antisemitisch kritisiert.

Ob was dran ist – also ob das Kollektiv oder Teile von ihm – zum Beispiel tatsächlich das Existenzrecht des jüdischen Staates nicht anerkennen oder eben nur die Besatzung kritisieren, wird erst mal ernsthaft zu prüfen sein. Auf beiden Seiten werden Leute jeden Widerspruch unerträglich finden und am Ende wird wieder keine neue Erkenntnis über das Ausmaß des linken und postkolonialen Antisemitismus stehen.

Ich hoffe so lange einfach, dass ich es immer schaffe, meiner Tochter zuzuhören, ganz gleich wie sehr sie rebelliert und wie sehr mich ihre Ansichten oder ihr Verhalten in den Wahnsinn treiben werden.

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