Holocaust und Kolonialismus: Die Mythen der Anderen
Ein Blick auf deutsche Befindlichkeiten von Togo aus: Beobachtungen bei einer Tagung zur Erinnerungskultur an der Universität Lomé.
W ir werden beobachtet. Wie geht Deutschland mit seiner Geschichte um, mit seiner doppelten Gewaltgeschichte? Die Beobachter sind keineswegs nur Essay schreibende New Yorker Intellektuelle, sondern – viel leiser, viel weniger beachtet – auch afrikanische. Ich komme gerade aus Togo zurück, von einem internationalen Kolloquium über politische Macht, kollektives Gedächtnis und nachkoloniales Erinnern.
Eingeladen hatte die Germanistik der Universität Lomé, es kamen GermanistInnen aus Benin, Kamerun, der Elfenbeinküste, aus Brasilien sowie von deutschen Unis. Was ich da zu suchen hatte? Schon springen wir ins Erstaunliche: Eine Forschungsgruppe in Lomé diskutierte ein Semester lang mein Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“ und lud mich dann ein, zur Eröffnung der Tagung zu sprechen.
Sie befasst sich als Auslandsreporterin und Buchautorin mit Gesellschaften außerhalb Europas und deren Auseinandersetzungen mit dem Westen. Zuletzt erschien „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ (Propyläen 2022).
Ein Fall von „regards croisés“, sich kreuzenden Blicken: Die Tonlage meines Buchs, für ein verunsichertes deutsches Publikum geschrieben, enthielt für LeserInnen in Togo auch ethnografische Hinweise. Wie sorgsam Deutschlands geschichtspolitische Debatten verfolgt werden, registrierte ich mit einer gewissen Beschämung. Schon mir, der Eingeweihten, erscheint manches kaum rational vermittelbar. Wie wirkt dies alles auf Menschen aus Cotonou, Abidjan oder Yaoundé, die an einer eigenen intellektuellen Kartografie der Welt arbeiten?
Sie waren höflich, blieben es auch, als etwas Seltsames geschah. Die Tagung kam mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts zustande, doch der deutsche Botschafter mochte sein Grußwort plötzlich nicht mehr halten, der Repräsentant des DAAD erkrankte abrupt. Weil im Titel eines Vortrags die Buchstaben BDS vorkamen, war offensichtlich aus dem Mutterland „Alle Mann auf Tauchstation!“ gekabelt worden.
Differenziertes Geschichtsverständnis
Lieber eine Riege westafrikanischer Professoren brüskieren als bei irgendeinem Fuzzi in Deutschland einen Antisemitismus-Alarm auslösen – ungewollt ein luzider Beitrag zum Gegenstand der Tagung, zumal in einer ehemaligen deutschen Kolonie. Ein Kameruner spöttelte über die „Mythen der Anderen“, die es zu dechiffrieren gelte.
Togo ist nicht Südafrika – Gaza und Israel spielten in Lomé kaum eine Rolle. Palästina dient dort nicht als Folie, um darauf die Befreiung von diversen Abhängigkeiten zu projizieren. Als Gegenpol zum aufgebrachten Südafrika, das mit Palästina die Traumata der eigenen Geschichte verbindet, mag das stille Togo gleichfalls exzeptionell sein. Oder illustrieren beide Extreme womöglich, wie heterogen der Globale Süden tatsächlich ist, allein im Spektrum Afrikas?
Von Lomé aus betrachtet wirkten die „Global South United“-Slogans auf Berliner Pro-Palästina-Demonstrationen wie Fabrikate romantischer Wünsche. Aber auch die gegenteilige, feindselige Pauschalisierung in manchen Feuilletons ist ja von Begierden getrieben: Wer alles Postkoloniale als antisemitisch stilisiert und den Globalen Süden als judenfeindlich, will ins Wanken geratene Hierarchien restaurieren, auf eine sehr deutsche Weise.
Zivilisatorischer Dünkel kleidet sich heute in die Rede, nur der Holocaust sei ein Zivilisationsbruch; das lag für meine afrikanischen GesprächspartnerInnen auf der Hand. Sie drückten Empathie für die jüdische Leidensgeschichte aus, akzeptierten damit jedoch kein Geschichtsbild, das die Tragödien des Kontinents auf hintere Plätze verweist. Einige hatten zu den Verflechtungen zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus gearbeitet; ihnen war bewusst, wie toxisch die deutsche Debatte dazu ist.
Nostalgie für die deutsche Kolonialzeit
Gleichwohl zeigen sich eben in den Biografien von Männern, die ihre Erfahrungen als Kolonialbeamte in Togo anschließend in den Dienst des NS-Machtapparats stellten, personelle und ideologische Kontinuitäten. Sie zu erforschen, hieß es in Lomé, parallelisiere keineswegs die Verbrechen. Jenseits der Universität ist Togo für das Bemühen um ein gerechteres Weltgedächtnis ein schwieriges Pflaster.
In der Bevölkerung fungiert eine gewisse Nostalgie für die deutsche Kolonialzeit als imaginäre Plattform, um die fortdauernde Abhängigkeit von Frankreich, der zweiten Kolonialmacht, zu beklagen. Historische Gräueltaten der Deutschen werden bislang auch in Schulbüchern eher beschwiegen, doch tritt allmählich die Realität ans Licht: Strafexpeditionen, Deportationen, Raub von Schädeln, Experimente an Kranken.
Aufklärend an dieser Front wirken nicht Historiker, sondern Germanisten: Sie können die Kolonialakten lesen, identifizieren Geraubtes in deutschen Museen und Depots. Bald sollen erstmals menschliche Gebeine zu Gemeinschaften in Nordtogo zurückkehren. Der Kampf richtet sich also nicht nur gegen eine deutsche Larmoyanz, die vom Bild der vermeintlichen Musterkolonie ungern lassen möchte, sondern ebenso gegen einheimische Widerstände.
Togo ist eine Art Familiendiktatur, der profitable Beziehungen nach Europa wichtiger sind als irgendein postkolonialer Impuls. Und viele junge Menschen wollen nur weg, träumen von Migration und lernen massenhaft Deutsch als vermeintliches Ticket in ein besseres Leben. Der Dekan der philosophischen Fakultät, der mich eingeladen hatte, sieht das mit Trauer. Postkoloniale Abhängigkeit zu überwinden bedeutet aus seiner Sicht: Lebensumstände zu schaffen, die jungen Leuten das Bleiben ermöglichen.
Wir saßen vor meiner Abreise lange in einer Bank, auf Euros wartend, in die ich meine Barschaft zurückwechseln wollte. Der westafrikanische Franc ist außerhalb der regionalen Währungszone nicht konvertierbar. Ein koloniales Spielgeld zugunsten französischer Interessen, eine tägliche Demütigung. Sie wird von den Menschen, die ich kennenlernte, ertragen, nicht akzeptiert.
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