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Hoffnung als politisches PrinzipEuphorie muss systemrelevant sein

Beim Anprangern von Missständen bleibt Freude oft auf der Strecke. Doch die Bilder nach der USA-Wahl zeigen, wie wichtig sie auch politisch ist.

Freude und Begeisterung in Atlanta über den Sieg Joe Bidens Foto: Brynn Anderson/ap

W ann waren Sie das letzte Mal euphorisch? Ich meine so richtig, mit einem Gefühl, als würde vor Glück gleich der Brustkorb zerspringen, als könnte man durch die halbe Stadt rennen, irgendwelche Stufen hinauf, und als müsste man dann von da oben alle angestaute Luft herausschreien. Wann noch mal?

An irgendeinem Tag in der letzten Woche, nachdem das Konzept Zeit zu einem zähen Klumpen Hubba Bubba zusammengeschmolzen war, da war plötzlich Euphorie. So richtig, im Internet. Ich habe mich dabei beobachtet, wie ich ins Netz starrte und eine Frau sah, die mit müden Augen Videos anguckte von Menschen in den USA. Sie tanzten auf den Straßen. Fielen sich in die Arme. Schrien vor Glück. Nahmen Telefonhörer ab und weinten.

Ich brauchte kurz, um diese Bilder zu begreifen, weil sie so sehr mit der Sehgewohnheit der letzten Jahre brachen. Auf den Straßen tanzen, statt zu demonstrieren. Vor Glück schreien statt vor Wut. Die Bilder zeigten Menschen, die feiern, und zwar richtig. Sie feiern die Niederlage eines der mächtigsten Arschlöcher der Welt, sie feiern sich selbst und die Hoffnung. Ausgelassenheit, Erleichterung und Glück in einem Jahr, in dem wir diese Gefühle sonst mit Abstand und durch Plexiglasscheiben betrachten wie Exponate in einem Museum.

Als ich die Euphorie der anderen sah, wollte ich auch euphorisch sein. Das Problem ist aber, dass wir Euphorie nicht gut können – wir, die die Welt besser machen wollen. Wir sind so geübt im Anprangern von Missständen und im Durchblicken komplexer Zusammenhänge, dass wir kaum Sätze bilden ohne „andererseits“.

Realismus ist nicht genug

Das ist wichtig, weil wir die Komplexität verstehen müssen, um Schlechtes besser zu machen. Andererseits (!) steht das ewige Aber oft im Weg. Wir brauchen nämlich die Euphorie wie eine Pause. Wir brauchen Momente uneingeschränkter Freude, in denen wir die Bedenken kurz auf später verschieben.

Viele Weltbessermacher:innen sind „Ja, aber“-Profis. Es gibt was zu feiern, aber noch immens viel zu tun. Es ist nötig, diese Gleichzeitigkeit mal kurz aufzulösen. Tatsächlich kostet die ständige Suche nach dem Haken eine Menge Kraft. Wenn wir uns Zeit nehmen für sogenanntes Selfcare, warum nicht auch, wie die Journalistin Vanessa Vu mal schrieb, für Community Care?

Zur Gemeinschaftspflege gehört das Feiern von Hoffnung, das ist systemrelevant. Im nüchternen Deutschland wird Hoffnung oft kleingemacht. Der Vorwurf heißt Naivität und Realitätsferne. Aber wo ist die bessere Welt, wenn nicht zumindest etwas fern vom Ist-Zustand?

Realismus war nie genug, um die Welt besser zu machen. Hoffnung hat nicht zuletzt diejenigen, die das System am meisten ächtet, immer weitermachen lassen. Deshalb brauchen wir auch als Gemeinschaft Momente der Euphorie, in denen man die bessere Welt fühlen kann und sich erinnert, dass viel mehr drin ist als nur Durchhalten.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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2 Kommentare

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  • Hedonismus setzt der Militanz Grenzen, möchte ich zu bedenken geben. Gewalt macht keinen Spaß. Widerstand und Protest kann auch Spaß machen. Seine Euphorie auf faktische Erfolge zu beschränken, wäre für mich persönlich eine Einschränkung der Freude.



    Sei es besoffen am AfD-Stand, gefühlt konspirativ aber definitiv intim in Kleingruppen, Tekkno-Party blockiert rechten Aufmarsch, bibelfeste*r Atheist*in oder stolze*r Non-binary im Gespräch mit den Zeugen oder anderen Fundamentalisten etc.



    Es gibt fast immer was zum Lachen.

  • Wie schön, dass Sie so etwas schreiben!

    Beim Lesen erinnere ich mich an das, was mich so bewegte, als ich die erlösende Nachricht von der US-Präsidenten-Ablösung las:

    Zuerst konnte ich es nicht glauben.



    Dann spürte ich den Druck, der - nicht nur in mir, aber für mich - auch als Aussenstehende, so nachhaltig auf mir gelastet hatte.



    Ich konnte mir klarmachen, dass ich ihn - immer noch nicht völlig sicher - wohl endlich loslassen durfte.



    Dann spürte ich plötzlich einen dicken Kloß im Hals, den ich kaum hinunter schlucken konnte.

    Ich wusste, dass ich ihn nicht in Freudentränen umsetzen konnte. Also transferierte ich ihn in ein gekrächztes "Äääeendlich", konnte endlich wieder schlucken und spürte allmählich den Kloß schwinden. Auch wenn ich nicht tanzen konnte, weil ich wie festgeschraubt am Sessel klebte.

    Diese Erlösung muss ich mir wohl noch öfters verdeutlichen. Denn auch hier in Deutschland hat dieser unsägliche Mensch seine Spuren hinterlassen.