Historisches Fußballspiel: Als Bayern München spielen lernte
Vor hundert Jahren trat der FC Bayern München gegen MTK Budapest an. Das 1:7 war eine beeindruckende Lehrstunde mit großen Nachwirkungen.
Am Samstag jährt sich zum hundertsten Male eines der bedeutendsten und wegweisendsten Spiele in der Geschichte des FC Bayern. Damals empfing der heutige Rekordmeister auf dem MTV-Platz an der Marbachstraße in Sendling das Team von MTK Budapest. Mit MTK kam die zu diesem Zeitpunkt beste kontinentaleuropäische Fußballmannschaft nach München.
Der Klub wurde 1888 gegründet. Viele der MTK-Väter waren großbürgerliche Juden. Ihre Vision: ein von Diskriminierung freier Sportklub, in dem jeder die Chance besitzt, seine Disziplin auf höchstem Niveau zu betreiben. Denn damals waren die Sportklubs der ungarischen Aristokraten für Juden unzugänglich.
1905 wurde der Jude Alfréd Brüll, ein Pionier des ungarischen Sportfunktionärswesens, Präsident des MTK, dem er auch als Mäzen diente. Die besten jüdischen Kicker des Landes spielten fast ausnahmslos für diesen Klub.
Bereits vor dem 1. Weltkrieg versuchten einige deutsche Klubs die Qualität ihres Spiels durch den Import von Wissen aus Ländern zu verbessern, die fußballerisch weiter waren. Man vereinbarte Freundschaftsspiele und verpflichtete ausländische Übungsleiter. Zunächst kamen die Entwicklungshelfer aus dem „Fußball-Mutterland“ England. Nach dem 1. Weltkrieg waren besonders Übungsleiter aus den Fußballschulen Budapests und Wiens gefragt.
Die beiden Donaustädte waren mit einem Gegenentwurf zum englischen Spiel zu kontinentaleuropäischen Fußballmetropolen aufgestiegen. In den Kaffeehäusern von Budapest, Wien und Prag hatte man um Antworten auf die englische Überlegenheit gerungen, die vornehmlich auf Kraft und Tempo der Spieler beruhte. Hier wurde das Spiel erstmals intellektuell diskutiert. Das Ergebnis war der sogenannte „calcio danubiano“.
Freundschaftsspiele gegen MTK waren so heiß begehrt wie heute Besuche von Real Madrid oder des FC Barcelona. Dass die Bayern die Ersten waren, die MTK auf deutschem Boden begrüßen durften, verdankten sie dem deutsch-jüdischen Fußballpionier Walther Bensemann, der 1920 den Kicker gründete. Bensemann unterhielt gute Beziehungen zum MTK-Boss Alfréd Brüll.
Am Tag des großen Spiels streikten die Buchdrucker, weshalb Bayern-Präsident Kurt Landauer pferdebespannte Wagen mit handgeschriebenen Ankündigungsplakaten durch Münchens Straßen schickte. Die Gäste waren nicht billig, Landauer fürchtete um die Zuschauereinnahme. Am Ende drängelten sich über 10.000 Zuschauer an der Marbachstraße, die bis dahin größte Kulisse bei einem Fußballspiel in München.
Nie zuvor hatte München einen derartigen Haufen brillanter Fußballer zu sehen bekommen wie am 27. Juli 1919. Der größte und schillerndste unter ihnen war der Donauschwabe Alfred „Spezi“ Schaffer, Europas erster „Fußballkönig“. Kapitän der Elf (wie auch der ungarischen Nationalmannschaft) war der 29-jährige Innenstürmer Vilmos Kertész, ein taktisch und technisch herausragender Spieler. Kertész war Jude, ebenso seine Mitspieler Jenö Konrad, dessen jüngerer Bruder Kalman, ein dribbelstarker Innenstürmer und Torjäger, Gyula Feldmann, Joszef Braun, Gyula Mándi und Antal Vágó.
Aber im MTK-Kader standen neben dem erwähnten Schaffer auch eine Reihe nichtjüdischer Stars. Trainer der Mannschaft war Izidor „Dori“ Kürschner, ein weiterer ungarischer Jude, der zuvor selber für MTK und Ungarns Nationalelf gespielt hatte.
Sehnsucht nach Kunst, nach Erhebung
„Fußballkönig“ Schaffer und seine Mitstreiter schlugen die Bayern souverän mit 7:1. Die Presse geriet ins Schwärmen. So las man in den Münchener Neuesten Nachrichten: „Die Gäste entwickelten eine wunderbare Spieltechnik, ihre Spielstärke ist in jeder Hinsicht vorbildlich. Ungemein schnell im Lauf und in der Ballbehandlung, einzig im Ballabnehmen mit systematischem Ballverteilen bei gut ausgeprägtem Flügelspiel, vornehm in jeder Lage, stellte sich hier dem Münchener Vertreter ein Gegner, der den Sieg vollauf verdiente.“ Auch der Berichterstatter der Zeitung Der Sportsmann war begeistert:„Was ist Fußballgeist? Dieser eine Sonntag hat’s gezeigt: Grenzenloser Enthusiasmus für das Schöne, Vollendete in unserem herrlichsten Kampfspiel! Nicht Fanatismus, nicht Sensationslust, nein, Sehnsucht nach Kunst, nach Erhebung, Veredelung.“
MTKs beeindruckende Demonstration führte dazu, dass der FC Bayern nun die Schule des „Donaufußballs“ kopierte. Unter Anleitung von Trainern, die der Fußballschule Budapests entstammten, avancierte München zur Bühne eines Kulturtransfers.Die Spielweise der Bayern wurde bald mit ähnlichen Attributen bedacht wie die der Wiener und Budapester Vereine. „Flüssig“ und „geschmeidig“ würden die Bayern spielen. 1932 feierte man den Deutschen Meister Bayern München als die „am schönsten spielende deutsche Elf“.
Die Verpflichtung von ungarischen bzw. ungarisch-österreichischen Fußballlehrern wurde durch die Entwicklung in Ungarn begünstigt. Am 1. August 1919, vier Tage nach MTKs Besuch in München, wurde in Ungarn das rätekommunistische Experiment zerschlagen. Das Ende der Räterepublik wurde von einem antisemitischen Furor begleitet. Die Antisemiten riefen zum Kampf gegen die „Judäo-Bolschewisten“ auf. Etwa 3.000 Juden wurden Opfer des „weißen Terrors“. Die meisten von ihnen hatten mit der Rätebewegung nichts zu tun.
Am 16. November 1919 übernahm der rechtsgerichtete antisemitische Admiral Miklós Horthy die Macht. Dies und die große Nachfrage trieb viele ungarisch-jüdische Trainer und Spieler ins Ausland. Davon profitierten vor allem der Fußball Österreichs, Italiens und Deutschlands, wo die Ungarn nun als Entwicklungshelfer wirkten. Am 24. Mai 1938 erließ Ungarns Ministerpräsident Bela Imvedy das erste Judengesetz, denen 1939 und 1941 weitere folgten. Am 26. Juni 1940 MTK traten Alfréd Brüll und die ebenfalls jüdischen Geschäftsführer Lajos Preiszman und Henrik Fodor zurück. Die Spieler und Mitglieder der MTK wollten aber ohne das Trio nicht weitermachen und beschlossen die Auflösung des Klubs.
Alfréd Brüll starb 1944 in Auschwitz. Jószef Braun kam 1942 im Arbeitsdienst ums Leben, Antal Vágó wurde 1944 im KZ ermordet. Dori Kürschner, die Konrad-Brüder, Vilmos Kertész, Gyula Feldmann und Gyula Mándi überlebten die Schoah – dank des Netzwerkes Fußball.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen