Historikerin über Nahost-Konflikt: „Israelis umarmen, Netanjahus in den Hintern treten“
Israels Regierung hat längst die Unterstützung von großen Teilen der Bevölkerung verloren, sagt die Historikerin Fania Oz-Salzberger.
t az: Frau Oz-Salzberger, wie hat das Massaker vom 7. Oktober die israelische Gesellschaft verändert?
Fania Oz-Salzberger: Eine Klassenkameradin von mir aus der Highschool wurde nach Gaza entführt. Sie wurde jetzt freigelassen, aber ihr Ehemann ist immer noch dort. Sehr gute Freunde von mir verloren Schwestern und Neffen. Ich denke an all die Menschen, die auf der Nova Party, dem Musikfestival, starben. Es ist so persönlich, wie es nur sein kann, und wir sind alle im unmittelbarsten Sinne schockiert. Es ist, als wäre man auf einem Schlachtfeld und hätte einen Granatenschock. Neben das Gefühl eines anhaltenden Traumaschocks, der Trauer, der Ungläubigkeit ist eine auch schreckliche Enttäuschung getreten: dass unsere Armee nicht da war, um dem Angriff entgegenzuwirken. Und das Trauma hält angesichts der Art und Weise, wie der Gazakrieg geführt wird, und angesichts der Verschärfung des Konflikts mit der Hisbollah an.
taz: Hindert das Trauma, wie Sie es beschreiben, die Menschen daran zu sehen, was in Gaza passiert?
Empfohlener externer Inhalt
taz talk mit Fania Oz-Salzberger
Fania Oz-Salzberger: Viele Israelis hatten zunächst ihre politische und moralische Orientierung verloren. Viele, viele Monate lang war es unmöglich, an etwas anderes zu denken als an die von der Hamas begangenen Verbrechen. Es hat Zeit gebraucht, bis wir überhaupt wahrhaben wollten, dass in Gaza in unserem Namen ein sehr hässlicher Krieg gegen die Hamas geführt wird. Und jetzt erkennen wir es an. Wenn wir auf die Straße gehen, um gegen Netanjahu und für Demokratie zu demonstrieren, sagen viele von uns: Was in Gaza passiert – das ist für uns nicht mehr wiederzuerkennen als das Israel, das wir früher kannten. Das ist nicht die Armee, in der ich früher gedient habe. Das sind nicht die moralischen Grundsätze, nach denen wir erzogen wurden, insbesondere in den Kibbuzim. Der Krieg in Gaza wird von einer Regierung geführt, an die wir nicht glauben, die wir nicht respektieren, die wir zunehmend für eine zutiefst kriminelle Regierung halten, nicht nur gegenüber der Zivilbevölkerung in Gaza, sondern auch gegenüber unserer eigenen Zivilbevölkerung. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Hamas und die Hisbollah besiegt werden müssen, denn sonst wird es in dieser Region niemals Frieden zwischen Juden und Arabern geben. Aber ich sehe nicht, dass meine Politiker auf dieses Ziel hinarbeiten.
taz: Gibt es auch in dem Teil, für den Sie stellvertretend sprechen, Unterstützung für den Krieg in Gaza?
Fania Oz-Salzberger: Die Hälfte der israelischen Gesellschaft, die ich vertrete, die Liberalen, die an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie glauben, sind selbstverständlich sehr unzufrieden mit dem, was in Gaza passiert. Wir sind die Hälfte, die bereit und in der Lage war, einen Friedensprozess zu beginnen. Genau das geschah im Juli, August und September 2023 ja auch – kurz vor dem 7. Oktober. Es lag ein Plan für eine Fortsetzung der Abraham-Abkommen auf dem Tisch, einen Friedensvertrag zwischen Israel und einigen Golfstaaten zu unterzeichnen.
Das ist ja eigentlich nicht der Friedensprozess, an den wir denken, wenn wir von den Abraham-Abkommen sprechen …
Ich gehöre zu denen, die glauben, dass die Hamas in erster Linie beabsichtigte, jede Chance auf Frieden mit Saudi-Arabien zu zerstören, denn das hätte den Beginn von Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zur Folge gehabt.
taz: Sie sprechen von Ihrer Hälfte der Bevölkerung. Haben sich die Gewichte in Richtung Regierung oder gegen sie verschoben?
Oz-Salzberger: Es wurde viel über die Menschen des linken Flügels geredet, über diejenigen, die aus ihrem Traum vom Frieden aufgewacht sind und sich desillusioniert nach rechts bewegten. Es gab viele Leute, die gesagt haben: „Wir können mit den Palästinensern jetzt keinen Frieden schließen.“ Aber in diesen ersten Monaten glaubten viele Israelis auch, dass die Regierung jetzt versucht, allen Bürgern Gutes zu tun und die Geiseln frei zu bekommen. Viele Israelis haben erst nach Monaten verstanden, dass die Regierung gar nicht versucht, die Geiseln zu retten und im Sinne der ganzen Gesellschaft Israels zu handeln. Selbst die armen Familien der Geiseln sagten, dass sie stillhalten und glauben müssten, dass die Regierung alles für ihre Freilassung tue. Doch seit dem ersten Geiseldeal im November ist nichts geschehen und auch der wurde nur unter enormem amerikanischen Druck abgeschlossen. Israels Regierung hat den Hahn zugedreht und zwar aus dem einfachen Grund, dass die rechtsextremen Koalitionspartner keine weiteren palästinensischen Terroristen freilassen wollen.
taz: Netanjahus Umfragewerte sind wieder gestiegen, sodass er tatsächlich eine Mehrheit hinter sich versammelt.
Oz-Salzberger: In den Umfragen geben zwischen 20 und 30 Prozent der Befragten an, dass sie Netanjahu weiterhin an der Regierung sehen wollen, das ist keine Mehrheit. Seit dem 7. Oktober könnte die derzeitige Opposition einschließlich der Mitte, der linken Mitte und der arabischen Parteien jederzeit eine Regierung bilden – wir bräuchten nur Neuwahlen. Aber Netanjahu sitzt mit den Rechtsextremen und den Ultraorthodoxen auf seiner 64-köpfigen Mehrheit der 120 Knesset-Mitglieder, und keiner von ihnen rührt sich.
taz: Man muss doch anerkennen, dass das eine politisch-parlamentarische Mehrheit für Netanjahu ist.
Oz-Salzberger: In der israelischen Gesellschaft gibt es aber keine Mehrheit für einen tödlichen Krieg gegen die Palästinenser und den gesamten Nahen Osten. Das meine ich damit. Auch die Ultraorthodoxen sind nicht antipalästinensisch oder antiarabisch, das alles ist ihnen nur völlig egal. Bei den nächsten Wahlen, die hoffentlich bald, aber spätestens Ende 2026 stattfinden, wird es nach den derzeitigen Umfragen keine Mehrheit für Netanjahu geben. Es würde eine israelische Mehrheit für eine gemäßigtere Politik geben. Das ist ein Hoffnungsschimmer.
taz: Aber wird es vor Ende 2026 einen Weg zum Frieden oder zumindest einem Waffenstillstand in Gaza geben? Oder muss es erst eine Wahl geben?
Oz-Salzberger: Wir glauben immer noch, dass mit demokratischem Widerstand von innen genug Druck aufgebaut werden kann. Es waren eine halbe Million Demonstranten auf der Straße, das hat aber nicht gereicht. Wir haben es mit einem Streik der Gewerkschaft versucht, aber der wurde aus irgendeinem Grund für illegal erklärt. Jetzt überlegen wir in der Protestbewegung, ob die Bürger nicht einfach morgens aufwachen, nicht zur Arbeit gehen und ihre Kinder nicht zur Schule schicken sollten. Nur – mit der Eskalation im Norden können wir solche Maßnahmen des zivilen Widerstands nicht ergreifen, nicht solange Krieg herrscht. Wir sind in gewisser Weise gefangen.
Und genau hier will uns Netanjahu in den kommenden Jahren halten, in einer permanenten Kriegssituation. Wir befinden uns in einem permanenten Bürgerkrieg zwischen den beiden Hälften der Gesellschaft. Deswegen brauchen wir Knesset-Mitglieder, die sich abwenden. Oder es muss etwas so Schreckliches passieren, dass diese Regierung zum Rücktritt gezwungen wird.
taz: Sie haben gerade ein Buch über die Zweistaaatenlösung geschrieben. Nur scheint es, dass niemand mehr an die Zweistaatenlösung glaubt.
Oz-Salzberger: Jeder gemäßigte Akteur in der arabischen Welt, einschließlich der Saudis und der Golfstaaten und der gemäßigten Palästinenser, mit denen ich gesprochen habe, glaubt an die Zweistaatenlösung! Und ich spreche mit vielen gemäßigten Palästinensern, heutzutage hauptsächlich digital. In der großen weiten Welt glauben viele Menschen an die Einstaatenlösung. Die Israelis selbst würden nicht im Traum daran denken, die Einstaatenlösung zu akzeptieren. Man würde 17 Millionen Menschen in ein Land hineinzwängen, die sich gegenseitig nicht mögen und absolut nicht die Absicht haben, zusammenzuleben – mit einer wichtigen Ausnahme: den israelisch-arabischen Bürgern. Aber niemand will in einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft mit der Hamas oder der Hisbollah oder irgendjemandem leben, der sie angefeuert oder das Massaker vom 7. Oktober bewundert hat. Was bleibt, ist die Zweistaatenlösung oder das ewige Blutbad. Wir müssen zwischen diesen beiden Optionen wählen.
taz: Was wären die Voraussetzungen für eine Zweistaatenlösung nach dem 7. Oktober 2023?
Oz-Salzberger: Das ist natürlich nichts für morgen früh. Aber mit Unterstützung des Westens und der Golfstaaten, Saudi-Arabiens und Ägyptens sollten wir in der Lage sein, uns mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland an einen Tisch zu setzen, mit der Fatah-Führung, entweder mit Mahmud Abbas oder mit seinem Nachfolger, von dem wir hoffen, dass er eine pragmatische, professionelle Führungspersönlichkeit ist. Wir hoffen, dass wir dann Linien auf der Karte ziehen können – ganz ähnlich der Linien des Oslo-Abkommens und des Genfer Abkommens, die die Entstehung eines Staates Palästina im Westjordanland und im Gazastreifen ermöglichen. Das bedeutet den Abbau der israelischen Siedlungen oder zumindest der meisten im Westjordanland, was nur unter einer neuen Regierung in Israel und mit einem enormen Konsens innerhalb der israelischen Gesellschaft möglich ist.
taz: Wie stark wäre der Widerstand, gerade der Siedler?
Oz-Salzberger: Vor dem 7. Oktober, als ein Plan auf dem Tisch lag, sagten einige von uns, dass es nur eine Person gibt, die das tun kann, und das ist Netanjahu. Er hatte die politische Macht, einige oder alle Siedlungen aus dem Westjordanland zu räumen. Das liegt daran, dass die Wähler von Netanjahu in einem Personenkult gefangen sind, ihm zuliebe hätten sie zugestimmt. Aber natürlich wird es nach dem 7. Oktober weitaus schwieriger werden. Hamas und Hisbollah müssen entschieden besiegt werden, bevor wir einen Prozess des territorialen Kompromisses und der Verhandlungen einleiten können. Und die internationale Gemeinschaft muss diesmal auf die kraftvollste Weise einschreiten und die beiden Seiten dazu zwingen, ein Gebietsabkommen zu unterzeichnen. Und was die internationale Gemeinschaft betrifft, so fällt es mir leider sehr schwer, die Vereinten Nationen einzubeziehen. Sie sind in dieser Angelegenheit einfach und total antisemitisch. Ich meine die EU, und ich meine eine hoffentlich fortbestehende demokratische Regierung in den Vereinigten Staaten – vielleicht aber auch Donald Trump. Trump ist so unberechenbar, aber ein Joker, der zu denen gehören könnte, die die Israelis zwingen können, ein Abkommen zu unterzeichnen. Aber bevor wir überhaupt anfangen, mit unseren rechtsextremen Fanatikern zu kämpfen und den Versuch zu unternehmen, Siedlungen aufzulösen, brauchen wir Partner am Verhandlungstisch: die Palästinensische Autonomiebehörde und die internationalen Akteure.
taz: Brauchen Sie europäische Regierungen, die drohen, keine Waffen mehr nach Israel zu exportieren?
Oz-Salzberger: Für mich ist das kein Spiel. Wenn meine Armee morgen aufhört, mich zu verteidigen, bin ich morgen tot. Wir brauchen unsere Waffen, um zu überleben. Es gibt genug Elemente im Nahen Osten, die uns physisch auslöschen wollen. Also würde ich nicht mit der Begrenzung von Waffengeschäften beginnen. Ich würde mit persönlichen Sanktionen gegen jeden rechtsextremen Politiker in Israel beginnen, einschließlich Smotrich und Ben-Gvir, die Anführer, die Rudelführer. Nicht nur gegen diesen und jenen alten Siedler, der gewalttätig gegenüber Palästinensern im Westjordanland war. Ich bin nicht einmal dagegen, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) letztendlich Haftbefehle gegen Netanjahu ausstellt. Netanjahu muss in der Weltgemeinschaft zur Persona non grata werden und das nicht nur wegen dem, was er den Palästinensern antut, sondern auch wegen dem, was er seinen eigenen Zivilisten antut, was nichts anderes als Verrat ist. Er ist ein abtrünniger Anführer. Die Sanktionsanstrengungen sollten sich deshalb nicht gegen die Universitäten richten, gegen die israelischen Liberalen, die israelische Zivilgesellschaft, nicht gegen die israelische Wirtschaft, die ohnehin hart getroffen wird, sondern gegen die Regierung, die uns führt.
taz: Wir haben darüber gesprochen, ob die Israelis bereit für eine Zweistaatenlösung sind. Wird es noch genug Palästinenser geben, die daran glauben?
Oz-Salzberger: Between the river and the sea, two states for you and me. Das ist mein Slogan. Leider gab es auch vor dem Krieg in Gaza und vor dem 7. Oktober nicht genug Palästinenser, die darüber sprechen wollten. Denn ein Teil der palästinensischen nationalen Identität besteht darin, dass sie alles wollen. Sie wollen alles vom Fluss bis zum Meer. Natürlich will auch unser rechter Flügel alles. Aber selbst heute, nach all dem Trauma und dem Horror und dem Massaker und dem Schock, sind 25 Prozent, mindestens 25 Prozent der Israelis, Juden und Araber, bereit, die Zweistaatenlösung zu akzeptieren. Ich bin Historikerin. Geschichte besteht nicht nur aus Katastrophen, sondern auch aus gelegentlichen Wundern. 1978 beschloss Anwar Sadat, der Präsident Ägyptens, fast über Nacht, dass er einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnen würde, und flog nach Tel Aviv. Konrad Adenauer kam Ende der 1960er Jahre nach Israel. Das war auch ein emotionaler Durchbruch, denn die meisten Israelis zu dieser Zeit, meine eigenen Großeltern und Eltern wollten nichts Deutsches mehr in ihrem Leben. Wir wollten nichts aus Deutschland kaufen. Wir wollten nichts mit Deutschland zu tun haben. Die Menschen waren gegen diplomatische Beziehungen, und im Laufe der Zeit schufen Adenauer und Ben-Gurion eine Dynamik, schufen ein Abkommen, das die Grundlage für die neuen deutsch-israelischen Beziehungen bildete. Wenn das mit Deutschland möglich war, warum dann nicht auch mit den Palästinensern? Die Antwort lautet: inspirierte Führung. Wir brauchen inspirierte Führung auf beiden Seiten.
taz: Was ist mit dieser Perspektive Ihre Botschaft an die deutsche Regierung?
Oz-Salzberger: Sie muss verstehen, dass die Maßstäbe der Unterstützung Israels um jeden Preis, die es seit Adenauer gibt und die über Brandt und Merkel bis hin zur aktuellen Regierung reichen, dass diese Maßstäbe die Regierung Israels nicht mehr einschließen. Heute muss man die Israelis unterstützen und nicht ihre Regierung. Ich weiß, dass die deutschen Staats- und Regierungschefs sehr formalistisch sein können und sagen: Oh, aber wir müssen jede Regierung unterstützen, die die Israelis gewählt haben. Und ich sage: Nein, nicht mehr. Es gibt einen völligen Vertrauensbruch zwischen Israels Regierung und ihren Bürgern, der Mehrheit ihrer Bürger. Die Deutschen sollten sich hinter Israels Zivilgesellschaft und unser Bestreben stellen, die Demokratie zu verteidigen und auf Frieden hinzuarbeiten. Sie müssen gegen Hamas und Hisbollah sein, aber jede Art von gemäßigter palästinensischer Führung fördern, die dazu bereit ist. Ich hoffe, dass die deutsche Regierung die emotionale Intelligenz hat, die Israelis zu umarmen und gleichzeitig den Netanjahus in den Hintern zu treten.
Barbara Junge ist taz-Chefredakteurin. Sie hat den Schock ihrer israelischen Freunde seit dem 7. Oktober erlebt, aber auch das Leid der Palästinenser.innen bedrückt sie.
Ulrike Winkelmann ist taz-Chefredakteurin und hat familiäre Verbindungen nach Israel und gleichzeitig eine emotionale Bindung an Beirut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus