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Historikerin über Gedenkkultur„Konstruktion einer Ideologie“

Putin entwirft ein mächtiges Russland und schürt antiwestliche Ressentiments. Das erinnert an die 1930er, sagt die Historikerin Irina Scherbakowa.

Der russische Präsident Wladimir Putin auf einer Militärparade zum 9. Mai 2014 Foto: dpa
Sonja Vogel
Interview von Sonja Vogel

taz: Frau Scherbakowa, in Russland gibt es diesen Spruch: Wladimir Putins größter Sieg sei der von 1945. Erinnert man sich an die gigantische Militärparade zum 9. Mai in diesem Jahr, scheint da etwas Wahres dran zu sein. Warum ist der Zweite Weltkrieg heute so wichtig?

Irina Scherbakowa: Der „neue Mensch“ sieht in Russland sehr alt aus. Das liegt daran, dass keine gesellschaftliche Gruppe eine Zukunftsperspektive oder Utopie anzubieten hat. Und da dieser gesellschaftliche Klebstoff fehlt, wird aus dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ein Kult gemacht, eine Religion. Das sieht man am 9. Mai. An den großen Sieg muss man heute einfach glauben! Frei nach Fjodor Tjutschews Zeile „An Russland muss man einfach glauben“. Es geht weniger um die Geschichte als um die Konstruktion einer Ideologie.

Und ein vor 71 Jahren beendeter Krieg kann so etwas wie ein gemeinsame Glaubensbekenntnis sein?

Die Todeszahlen waren so enorm, dass jede Familie betroffen war. Die aktuelle Inszenierung ist ein gelungener Versuch, diese Gefühle ideologisch aufzuladen. Der Mensch lebt schließlich nicht von Brot allein, gerade nicht in der Wirtschaftskrise, und das hat die offizielle Propaganda begriffen.

Es gab bereits eine Bewegung, die die familiäre Erinnerung auf die Straße brachte: Im „Unsterblichen Regiment“ wurde selbstorganisiert an tote Verwandte erinnert. Dieses Jahr führte Putin den Trauermarsch von Hunderttausenden an. Was halten Sie davon?

Das ist eine Vereinnahmung dieser Initiative von unten. Eine sehr gelungene. Das „Unsterbliche Regiment“ ist ein großer Erfolg, denn es appelliert an Gefühle und Erinnerungen, die die Familien noch haben. Und hier knüpft die Regierung an, mit dem Nationalstolz, dem Ideal eines mächtigen Russlands mit starkem Führer. Stalin wird so zu einer positiven Figur, dem starken Herrscher, der den Sieg ermöglichte. Alles, was dieses Bild trüben könnte, wird weggewischt. Es ist schwierig, die Menschen in diesem Moment auf die Geschichtswissenschaft hinzuweisen.

Im Interview: Irina Scherbakowa

Die Frau: Geboren 1949 in Moskau, Journalistin, Historikerin und Übersetzerin. Sie arbeitet für Memorial Moskau und ist Mitglied diverser Stiftungen, wie beispielsweise des Kuratoriums der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar. 2005 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, 2014 mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch „Der Russland-Reflex“ (edition Körber-Stiftung, 2015).

Memorial: Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge. Die Menschenrechtorganisation, die 1988 als erste regierungsunabhängige Organisation der Sowjetunion gegründet wurde, widmet sich der Aufarbeitung vor allem der stalinistischen Gewaltherrschaft. Einige ihrer Mitgliedsorganisatio­nen in Russland stehen auf der staatlichen Liste der „ausländischen Agenten“, ihre Arbeit wird überwacht und erschwert.

Und was ist mit der Erinnerung an den stalinistischen Terror? Lange gab es sie kaum, nun hat in Moskau ein städtisches Gulag-Museum eröffnet.

Es gibt die Tendenz, den Terror getrennt von den Siegen darzustellen. Als zu verurteilende Auswüchse. Das Museum gibt es und es soll in Moskau auch ein Denkmal für die Opfer errichtet werden. Auch Memorial pflegt die Erinnerungen an sie, in dem Projekt „Die letzte Adresse“ werden zum Beispiel russlandweit die Häuser der Opfer markiert. Viele Menschen unterstützen das, aber andere Tendenzen sind leider stärker.

Ist das Interesse an den individuellen Schicksalen der Kriegs- und Nachkriegszeit gestiegen?

Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft interessiert sich für diese Zeugnisse. Es ist ein großer Widerspruch, denn wenn der Große Vaterländische Krieg solch eine Rolle spielt, müsste die Parole lauten: Lest, was Zeitzeugen hinterlassen haben, die Bücher, in denen sie schreiben, dass sie damals nur die Hälfte der Wahrheit hatten sagen können, schaut ihre Filme, die noch unter Zensurbedingungen entstanden sind. Aber das ist heute kaum möglich. Die Aussagen von Schriftstellern wie Wassil Bykau oder Viktor Astafjew über die schreckliche Tragik des Krieges würden heute einen Skandal auslösen.

Gehört zu dieser Instrumentalisierung eines Teils der Geschichte auch das wachsende antiwestliche Ressentiment?

Natürlich. Es heißt heute, der Westen wolle uns unseren Sieg absprechen und wir seien eine belagerte Festung. Das ist nicht einmal die Sprache des Kalten Kriegs, sondern die der 1930er! Das Gesetz über „Ausländische Agenten“, die Rede von der „Fünften Kolonne“, das ist die Rhetorik der Mobilisierung zu einem imaginären Krieg.

Es scheint fast so, als würden manche unverarbeiteten historischen Traumata aufs Neue durchlebt. Ist das eine Art der Bewältigung?

Es ist viel schlimmer. Das Trauma der fehlenden Selbst­identifizierung – wer sind wir, wohin geht Russland, wie stehen wir zu unserer Vergangenheit? – bricht gerade erst wieder auf. Es gibt darauf keine Antworten. Deshalb hält man sich an den nationalen Stolz, das ist einfacher als Reflexion und Trauerarbeit.

Gerade hat das Justizministerium das „Agentengesetz“ zugespitzt mit der Verlautbarung: Wer das Gesetz kritisiere, sei selbst ein „Agent“. Wie erklären Sie diese Verengung des öffentlichen Raums?

Man hat keine Lehre aus der Geschichte gezogen. Ich habe das Gefühl, dass heute ganz bewusst dieser Weg der Verschärfung gegangen wird, dass bewusst Dinge wiederholt werden, etwa aus den 1930er Jahren der Sowjetzeit. Der aggressive Populismus wird zum wichtigsten Machtinstrument.

Durch die Gegensanktionen und den Extremismusparagrafen wurde das Reisen erschwert oder verboten. Wie kann man da noch einen Blick aus Russland hinauswerfen?

Es gibt natürlich das Internet.

Letztes Jahr ist ein Mann zu zehn Monaten Haft verurteilt worden, weil er einen kritischen Text zur Ukraine im Netz geteilt hat. Das schüchtert ein.

Die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens breitet sich aus. In dieser Situation wird es auch schwierig mit den Umfrageergebnissen – man sagt eben lieber nichts Kritisches.

Und trotzdem gibt es Proteste. Seit letztem Jahr demonstrieren Zehntausende Lkw-Fahrer gegen Mautgebühren, mit Kolonnenfahren und anderen Aktionen . . .

Viele Leute sind unzufrieden, vor allem in der Provinz. Das bedeutete aber nicht, dass sie etwas bewirken können. Die Proteste ersticken einfach. Es entsteht aus ihnen nicht so etwas wie die polnische Solidarność. Und einige Menschen verlassen das Land, vor allem junge und aktive.

Und die Lage spitzt sich zu. Befindet sich Russland nicht in einer wirtschaftlichen und sozia­len Krise?

Russland isoliert sich, aber so eindeutig ist die Krise nicht. Europa und die USA stecken auch in Krisen, ideologischen und Krisen des Parteiensystems. Solche Banalitäten wie „Der Westen steckt in der Krise“ sind mir zuwider. Es gibt aber Zeiten, in denen das real wird. Jenseits des Populismus von links und rechts begreift man, dass manches nicht so einfach zu bewältigen ist. In Russland wird das aufmerksam beobachtet und missbraucht.

Nicht nur in Russland. Es verbrüdern sich auch europäische Linke und Rechte mit Putin. Was verbindet sie – die Freude über das Scheitern der westlichen Demokratie?

Die Schadenfreude ist ein überragendes Gefühl. Aber sie ist nicht das einzige Verbindende. Man braucht sich gegenseitig. In Russland bezieht man sich gern auf diese Stimmen.

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