Historiker über Geschichte der Ukraine: „Imperiale Politik wird scheitern“
Der Historiker Serhii Plokhy schreibt über die dramatische Vergangenheit der Ukraine. Ein Gespräch über Kampfgeist, historische Fehler und die Zukunft.
taz: Herr Plokhy, Sie sind in Saporischschja aufgewachsen, einem Ort, auf den derzeit die ganze Welt schaut. Haben Sie dort Verwandte und Freunde, die Ihnen von dort etwas berichten?
Serhii Plokhy: Ja, meine erweiterte Familie lebt dort, etwa 50 Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt. Anders als beim Kernkraftwerk ist die Stadt Saporischschja unter ukrainischer Kontrolle. Auf die Stadt gibt es oft Raketenangriffe, meine Verwandten können nur hoffen, dass die Situation sich verbessert. Die größere Bedrohung ist natürlich das Atomkraftwerk, das größte in Europa.
Lange wurde das viel zu wenig thematisiert, doch schon am ersten Tag des russischen Angriffskriegs haben die Russen das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl eingenommen, und der Krieg wurde nuklear. Zur aktuellen Debatte über die Atomkraft sage ich: Wir können keine neuen Kernkraftwerke bauen, bevor wir nicht wissen, wie wir die bestehenden unter den Bedingungen des Kriegs schützen können. So einfach ist das.
Sie erzählen in Ihrem neuen Buch „Das Tor Europas“ von den lang anhaltenden instabilen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland und von den Unabhängigkeitsbestrebungen der Ruthenen und Kosaken in früheren Jahrhunderten. Wiederholt sich Geschichte gerade?
Es gibt den berühmten Satz: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ Mir fallen viele Reime auf. Auf dem Territorium der Ukraine befanden sich in der Geschichte häufig kulturell-weltanschauliche Grenzen, eine wichtige war die zwischen östlichem und westlichem Christentum.
Serhii Plokhy: „Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine“. Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, 560 Seiten, 30 Euro
Die Ukraine lag zudem am Rande großer Imperien wie dem Mongolischen Reich und dem Russischen Reich, an der Schwelle zu Mitteleuropa. Und im 20. Jahrhundert war es so: In der Zwischenkriegszeit wurde die Ukraine auf vier verschiedene Länder aufgeteilt. Die Nationalitätenfrage blieb also ungelöst. Bis zu einem gewissen Grad dauert dieser Zustand bis heute an.
Sie beziehen sich auf Samuel P. Huntingtons „Clash of Civilizations“ (1996), der eine Linie durch das Gebiet der Ukraine zog. Huntingtons Grundthese war ja eher ein Zusammenprall von muslimischer und westlicher Welt. Geht es nicht heute um Autokratie versus Demokratie?
Ich sage, dass die Linie in Huntingtons Buch falsch gezogen ist, weil die Grenze zwischen der katholischen und der orthodoxen Ukraine darin nicht aufgeht. Diese Linie ist mehr oder weniger die, die auch Putin zieht, in dem Sinne wäre er Huntingtonianer, denn er hat ja nie wirklich einen Anspruch auf die Westukraine erhoben. Aber Sie fragten nach dem Krieg zwischen Demokratie und Autokratie: Wenn wir in die jüngere Geschichte blicken, sind die Versuche, ein autoritäres Regime in der Ukraine zu installieren, gescheitert, beide endeten mit Maidan-Protesten – 2004 und 2013.
Eine demokratische Ukraine stellt eine Bedrohung für das russische Regime dar: Wenn immer wieder darauf verwiesen wird, Russen und Ukrainer seien ein und dasselbe Volk und in der Ukraine ist nun die Demokratie erfolgreich, dann macht das sicherlich denjenigen in Russland Mut, die sich vom autoritären Regime lossagen wollen.
Sie erzählen auch von der Widerstandskraft der Ukrainer in der Geschichte, etwa bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939, als sich die Ukrainer den Ungarn widersetzen.
Die einzige Gruppe, die Widerstand leistete, waren die Ukrainer! Alle anderen sagten: Okay, wir haben verstanden. Die Ukrainer haben kurze Zeit gekämpft, aber sie haben gekämpft. Und bereits in der Zeit des Russischen Reichs hatte die Ukraine die größte Bauernarmee. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum kämpften 40.000 Menschen gegen Stalin, der nationalistische Widerstand in der Westukraine war der größte antisowjetische Widerstand, den es gab.
Waren Sie also vom jetzigen Widerstand der Ukrainer nicht überrascht?
Ich hatte keinen Zweifel, dass es Partisanen geben würde. Aber ich war mir nicht so sicher, wie gut die Ukrainer in der Lage sein würden, als Teil der staatlichen Armee zu kämpfen. Denn der Staat wurde im Laufe der Jahrhunderte nie als Institution angesehen, die dich schützt. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Ukrainer ihren Staat und ihre Streitkräfte voll und ganz akzeptieren.
65, wurde in Gorki, Russland, als Sohn ukrainischer Eltern geboren. Er ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Er ist einer der profiliertesten Kenner der ukrainischen Geschichte.
Sind die größten Fehler des Westens nach 2014 gemacht worden oder bereits zuvor?
Das Budapester Memorandum von 1994 war ein großer Fehler. Damals wurde beschlossen, Atomwaffen aus der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan zu beseitigen. Es gab gute Gründe dafür. Doch der Gedanke dahinter war, es sei besser, wenn sie unter russischer Kontrolle wären. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als Russland bereits Ansprüche auf die Krim erhob. In der Folge entstand ein riesiges Sicherheitsvakuum in Mitteleuropa – den Preis zahlen jetzt die Ukrainer.
Deutschland dagegen versuchte Russland in jüngerer Zeit mithilfe von Handelsbeziehungen zu befrieden – die Idee von „Wandel durch Handel“ ist jedoch im 20. Jahrhundert mehr als einmal gescheitert. Wie so oft zuvor spielten auch bei den Gasgeschäften falsche Hoffnungen, magisches Denken und private Interessen von Einzelpersonen und Unternehmen eine Rolle.
Sie befassen sich in Ihrem Buch auch mit ukrainischer Literatur. Aus früheren Jahrhunderten sind viele große ukrainische Autoren weltweit wenig bekannt, von Taras Schewtschenko abgesehen, heute sind ukrainische Autoren wie Serhii Zhadan populär im Westen. Erklärt das die größere Nähe zwischen dem Westen und der Ukraine?
Es ist eine traurige Ironie, dass die immer noch existierende Kluft zwischen dem Westen und der Ukraine nun durch den Krieg verkleinert wird. Es gibt einen politisch nicht gerade korrekten Witz in den USA: „War is God’s way of teaching Americans geography.“ In dem Fall passt er nicht ganz, denn das politisch-historische Wissen über die Ukraine ist in den USA höher als in Deutschland. Hier wird mehr ukrainische Geschichte gelehrt und studiert, aber was Übersetzungen der ukrainischen Literatur betrifft, war Deutschland führend. Doch jetzt gibt es auch mehr Interesse an ukrainischer Literatur in den USA und umgekehrt an ukrainischer Geschichte und Politik in Deutschland.
Zwischen Russland und der Ukraine herrschte in der Geschichte oft ein Krieg der Sprachen.
Auch da kommt mir ein Spruch in den Sinn: „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine.“ Die ukrainische Sprache wurde eben oft nicht als Sprache, sondern als Dialekt betrachtet. Die russisch-kaiserlichen Behörden versuchten im 19. Jahrhundert, die Entwicklung der ukrainischen Sprache aufzuhalten, indem sie ukrainischsprachige Publikationen verboten. Ironischerweise zwangen sie die Ukrainer im Osten, sich der Westukraine zuzuwenden, die unter österreichisch-ungarischer Herrschaft stand. Was taten also die ukrainischen Schriftsteller aus dem östlichen und zentralen Teil der Ukraine? Sie veröffentlichten in Lwiw, in Galizien. Und schufen einen gemeinsamen kulturellen Raum, den es sonst so nicht gegeben hätte.
Umstritten ist das Verhältnis der ukrainischen Gesellschaft zum einstigen Nationalistenführer Stepan Bandera. Für wie gefährlich halten Sie den Bandera-Kult?
Ich sehe zum jetzigen Zeitpunkt nicht, dass die ukrainische Gesellschaft die Art von ethnozentrischem oder integralem Nationalismus annimmt, die mit Bandera und der Organisation Ukrainischer Nationalisten in Verbindung gebracht wird. Nach Kriegsbeginn 2014 haben die Rechtsextremen und Nationalisten nicht genug Unterstützung bekommen, um ins Parlament einzuziehen. Die populärste von ihnen, Swoboda, hat es 2014 nicht ins Parlament geschafft, blieb unter 5 Prozent. Man sollte sich eher fragen, warum die Nationalisten in Frankreich, Italien oder England so stark und in der Ukraine so schwach sind.
Was erwarten Sie für die nächsten Monate oder Jahre in der Ukraine und in geopolitischer Hinsicht?
Der Krieg Russlands steht für den Versuch ehemaliger imperialer Mächte, ihre Ambitionen im postimperialen Raum aufrechtzuerhalten – am Ende wird diese imperiale Politik scheitern, wie sie so oft in den vergangenen 60 oder 70 Jahren gescheitert ist. Zugleich sehen wir ein wiedererstarktes transatlantisches Bündnis und auch viel mehr Einheit innerhalb Europas. Und wir sehen den unvermeidlichen Vorstoß Russlands in Richtung China. In gewisser Weise wiederholt sich das Bündnis Peking–Moskau aus den 1950er Jahren – nur akzeptieren wir, dass China und nicht Russland jetzt am Ruder ist.
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