Hinrichtung wegen Popkultur: Straftat K-Pop
Nordkorea sieht die südkoreanische Pop-Industrie als eine Bedrohung. Das Schauen von K-Pop-Videos bestraft das Regime zum Teil mit dem Tod.
Wie keine zweite Organisation versucht die Transitional Justice Working Group (TJWG) mit Sitz in Seoul, die staatliche Gewalt der nordkoreanischen Regierung wissenschaftlich zu erfassen. Dabei geht ihre Arbeit weit über das Sammeln einzelner Augenzeugenberichte hinaus: Stattdessen soll durch eine möglichst flächendeckende Erhebung ein objektives Bild über die Gräuel unter Machthaber Kim Jong Un gezeichnet werden. Das langfristige Ziel der NGO ist es, gegen das Vergessen anzukämpfen: Sollte das nordkoreanische Regime in Zukunft einmal zusammenbrechen, können die Berichte der TJWG dazu dienen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern rechtliche Anerkennung zuzusichern.
Für ihre aktuelle Studie haben die Bürgerrechtler aus Seoul über sechs Jahre lang nahezu 700 nordkoreanische Flüchtlinge methodisch interviewt: Ihnen wurden zunächst gewöhnliche Satellitenfotos ihrer Heimatstädte vorgelegt, um geografische Ortskenntnisse, Erinnerungsvermögen und Glaubwürdigkeit festzustellen. Schlussendlich befragten die Autoren die Geflüchteten zu einem Thema, zu dem erstaunlich viele Nordkoreaner im Exil ihre eigenen traumatischen Erfahrungen beizutragen haben: öffentliche Hinrichtungen.
Diese finden meist im Freien statt, etwa auf Flugplätzen oder Feldern am Ortsrand. Oftmals müssen den Erschießungen nicht nur die Angehörigen der Verurteilten beiwohnen, sondern die gesamte Nachbarschaft – offensichtlich aus Gründen der Abschreckung. „Selbst als bereits Flüssigkeit aus dem Gehirn des Verurteilten austrat, mussten die Menschen noch in Reih und Glied stehen bleiben und ihm ins Gesicht schauen“, sagt einer der interviewten Nordkoreaner in der Studie.
Psychologische Kriegsführung von Süden
Allein 23 solcher öffentlichen Exekutionen kann die NGO während des letzten Jahrzehnts unter Kim Jong Un nachweisen. Zwei Drittel der Todesurteile wurden wegen Straftatbeständen wie Drogenkonsum, Prostitution und Mord ausgesprochen. In mindestens sieben Fällen wurden Bürger wegen eines scheinbar trivialen Vergehens hingerichtet: das Schauen und Verbreiten südkoreanischer Videos.
Repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind solche Erkenntnisse nicht. Doch die meisten Flüchtlinge, die es nach Südkorea schaffen, stammen zu großen Teilen aus der nördlichen Grenzregion zu China – einer Gegend, in der der Schmuggel floriert. Zwischen den zwei Staaten, die nur vom wenige Meter breiten und im Winter zugefrorenen Fluss Yalu getrennt werden, hehlen die Händler aber nicht nur mit Waren, sondern auch mit Informationen.
Als Teil der psychologischen Kriegsführung hat Südkorea jahrelang speziell präparierte Heißluftballons über die Grenze fliegen lassen. Die Luftpost war meist mit politischen Propagandaflyern gefüllt, etwa Karikaturen über die Kim-Familie. Oftmals enthielten die Sendungen auch triviale Bildchen leicht bekleideter Frauen, die angeblich in Südkorea auf nordkoreanische Soldaten warten würden, wenn diese desertieren. Wirklich wirksam war diese Strategie nicht.
Seit gut zehn Jahren jedoch hat die Popkultur aus dem Süden Einzug in das abgeschirmte Land gehalten – oftmals durch chinesische Händler und Geschäftsleute. Diese schmuggeln südkoreanische Seifenopern und K-Pop-Musik via USB-Sticks unter die Leute. Was nach trivialer Unterhaltung klingt, birgt für das nordkoreanische Regime selbst eine geradezu existenzielle Bedrohung. Denn die glitzernde Botschaft eines hochentwickelten und wohlhabenden Landes kommt für viele Leute einem regelrechten Schock gleich.
Das Regime fürchtet den Wunsch nach Wohlstand
Wie das südkoreanische Database Center for North Korean Human Information in einer Erhebung erfasst, sind fast zwei Drittel aller nordkoreanischen Migranten in ihrem Heimatland mit Informationen aus dem Ausland in Berührung gekommen. Nicht selten haben sie den entscheidenden Wunsch zur Flucht ausgelöst. „Es ist kein Zufall, dass Kim Jong Un hart daran arbeitet, dass Nordkoreaner keinen Zugang zu ausländischen Medien bekommen und wenig Information über die Außenwelt haben“, sagt Andrei Lankov, einer der führenden Kenner des Landes.
Der gebürtige Russe, der seit Jahrzehnten in Seoul lebt, sagt: „Die Sowjetunion hat letztlich nicht die Aussicht auf eine westliche Wahlkabine zu Fall gebracht, sondern die Verheißung eines westlichen Supermarktes.“ Was Kim Jong Un also fürchtet, sei nicht so sehr der Ruf nach Demokratie und Freiheit, sondern der Wunsch nach materiellem Wohlstand, wie er in Südkorea längst erreicht worden ist.
Doch ausgerechnet die Coronapandemie hat das ohnehin abgeschirmte Nordkorea nun vollkommen isoliert. Unabhängige Informationen dringen kaum mehr an die Außenwelt, auch die Anzahl an Flüchtlingen ist dramatisch eingebrochen. Höchstwahrscheinlich ist auch der Zugang zu Videos und Musik aus Südkorea nicht mehr vorhanden. Genau zehn Jahre, nachdem Kim Jong Un den Diktatorensessel in Pjöngjang besetzt hat, ist das Land so isoliert wie zuletzt vor der Jahrtausendwende.
Und die Zukunftsprognosen sind alles andere als rosig: Wie Nordkorea in einer weiteren Dekade dastehen wird, wollte erst kürzlich das Fachmedium NK News von mehr als 80 der führenden Beobachter des Landes wissen. Das wahrscheinlichste Szenario ist ernüchternd: Die Bevölkerung werde eine „schwere humanitäre Krise“ und „Nahrungsmittelknappheit“ erleiden, während die politische Elite weiter ihr Nuklearprogramm vorantreibt. Dass die Machthaber dem breiten Volk ein besseres Leben verweigern, werden jedoch viele von ihnen aufgrund der fehlenden Vergleichsmöglichkeiten gar nicht begreifen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten