Hindu-Nationalismus in Indien: Sich die Geschichte zurechtmachen
Die indischen Geschichtsbücher werden um Teile der Vergangenheit ärmer. Die Regierung treibt die muslimische Minderheit einmal mehr an den Rand.
D as selektive Ausradieren der indischen Vergangenheit wurde lange vorbereitet – mit dem Ziel, die muslimische Bevölkerung auszugrenzen. Nun passiert es wirklich, und zwar in den Lehrbüchern für Geschichte. Nicht einmal mehr erwähnt wird dort nun das vom 16. bis zum 19. Jahrhundert existierende Mogulreich. Dessen bedeutende Rolle für die Herausbildung einer „indischen Kultur“ soll fortan unterschlagen werden, denn man wolle doch die Arbeitsbelastung der Schulkinder senken.
Aber wer ließ dann den Tadsch Mahal bauen, jenes prächtige Marmormausoleum aus dem 17. Jahrhundert, das auf jeder Tourismusbroschüre abgebildet ist? Das bleibt nun der Fantasie überlassen. All das ist ein weiterer Schritt, um den rechtsgerichteten Hindufundamentalismus, auch Hindutva genannt, systematisch durchzusetzen.
Die extrem rechte Hinduorganisation Rashtriya Swayansevak Sangh (RSS), die die ideologische Vorarbeit für die Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) macht, versucht schon lange, Indien als einen Staat für Hindus allein darzustellen. Niemand hat die Unruhen von 2002 nach einem Attentat auf einen Zug in Godhra im Bundesstaat Gujarat vergessen, als Muslim:innen verbrannt, getötet und vergewaltigt wurden. Damals war Narendra Modi als Chief Minister der Regierungschef Gujarats.
Sein Schweigen und seine Untätigkeit angesichts der Ausschreitungen waren vielsagend, sein Name kam in mehreren Petitionen vor, die Gerechtigkeit einforderten. Seit 2014 ist er Indiens Premierminister. In den neun Jahren seither hat fortgesetzte Gewalt gegen Muslim:innen dazu gedient, seine Agenda des Hindustaats zu fördern. Es überrascht kaum, dass auch die Godhra-Unruhen aus den Lehrbüchern getilgt worden sind.
ist preisgekrönte Journalistin. Sie hat vor allem über Menschenrechtsfragen aus Japan, Argentinien, Bosnien-Herzegowina, El Salvador, Indonesien und Indien berichtet.
Auch der Satz, dass Mahatma Gandhi „überzeugt war, dass jeder Versuch, Indien zu einem Staat nur für Hindus zu machen, Indien zerstören würde“, bleibt Schulkindern vorenthalten. Gandhi wurde bekanntlich von dem RSS-Anhänger Nathuram Godse erschossen. Muslime, die sich am Unabhängigkeitskampf gegen das britische Kolonialreich beteiligten, finden sich in den Lehrbüchern ebenso wenig wie Muslime, die an der Ausarbeitung von Indiens Verfassung beteiligt waren.
Auf dem Weg zum rein hinduistischen Staat
Über die Jahre sind von den Mogulherrschern erbaute Orte umbenannt worden. Die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya im Jahr 1992 wurde damit gerechtfertigt, dass sie auf dem Gelände eines Hindutempels stehe. Es war ein entscheidendes Vorhaben der RSS auf dem Weg weg von einem säkularen Indien hin zu einem rein hinduistischen Staat. Somit soll ein wesentlicher Teil der indischen Bevölkerung erst aus den Lehrbüchern und dann aus einer gemeinsamen Zukunft in Indien getilgt werden.
Auch in den USA sind in kurzer Zeit 2.500 Bücher aus Schulbibliotheken und Lehrplänen verbannt worden, weil ihr Inhalt aus unterschiedlichsten Gründen missfiel. Das wird auch in Indien kritisiert, doch wer es zu laut und mit Verweis auf die Menschenrechte tut, hat schnell eine Anklage an der Backe. Viele aber kennen das historische Vorbild aus den 1930er Jahren, als in Deutschland Schulbücher umgeschrieben wurden, um die Naziherrschaft zu glorifizieren und den Antisemitismus zu schüren.
Die Konsequenzen sind nur zu bekannt. Doch Indien begibt sich bedauerlicherweise auf den gleichen Weg, und mit einem ähnlichen Ziel: Muslime aus der Erinnerung, aus dem gesellschaftlichen Diskurs zu löschen und letztlich in ihrer Existenz zu zerstören. Deutschland ist der siebtgrößte Investor in Indien. Vielleicht sollten seine Vertreter solche Irrwege seines Handelspartners deutlicher zur Sprache bringen.
Aus dem Englischen von Stefan Schaaf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“