Hilfe bei sexuellen Übergriffen in Ägypten: Die App, mein Freund und Helfer
Kairo gilt als weltweit gefährlichste Metropole für Frauen. Eine junge Ägypterin hat eine App erfunden, um bei sexuellen Übergriffen zu helfen.
„Nie zuvor habe ich eine solche Machtlosigkeit gespürt“, sagt Shadw Helal heute, ein Jahr nach dem Anruf. Sie hat einen der begehrten Plätze in der oberen Etage eines Cafés ergattert und einen grünen Tee bestellt. Sie bewertet noch schnell ihre zurückliegende Fahrt mit dem in Kairo beliebten Fahrdienst Uber. Es läuft Jazzmusik, junge Menschen trinken Chai Latte oder Cappuccino und stöpseln ihre Smartphones in die an den Tischen angebrachten Ladestationen.
Shadw Helal ist 22 Jahre alt, studiert in Kairo an der zweitgrößten Universität Afrikas Medizin und hatte bis vor Kurzem mehr mit dem Schreiben von Poesie als mit Feminismus und Digitalisierung zu tun. Ihr streng gebundenes Kopftuch lässt keinen Haaransatz erkennen. Über ihre Hand zieht sich eine kleine Tätowierung.
Ihre Freundin hatte Glück vor einem Jahr, sie konnte den Verfolgern entkommen. Vielen anderen gelingt das nicht. Kairo gilt als die für Frauen gefährlichste Metropole der Welt. Nach einer im Oktober 2017 veröffentlichten Umfrage der Thomson Reuters Foundation ist die Hauptstadt Ägyptens knapp gefolgt von Karatschi in Pakistan und Kinshasa im Kongo der Ort, an dem Frauen besonders schlecht vor sexuellen Übergriffen geschützt sind. In einer UN-Umfrage gaben 99,3 Prozent der ägyptischen Frauen an, bereits belästigt oder begrapscht worden zu sein.
Lebensalltag in ständiger Bedrohung
„Dass meine Heimatstadt ein gefährliches Pflaster für Frauen ist, war mir schon immer bewusst“, sagt Helal. Seit vielen Jahren fährt sie kaum noch Bus, geht selten nach Sonnenuntergang in die Stadt und meidet Großveranstaltungen. Wie viele andere Frauen hat sie ihren Lebensalltag der ständigen Bedrohung angepasst. Fast schon intuitiv, über die Ursachen hat sie sich lange gar keine Gedanken gemacht. Der Hilferuf ihrer Freundin wirkte wie ein doppelter Weckruf.
Die Polizei sei zu langsam, die Einsatzkräfte würden oft erst eintreffen, wenn die Täter schon geflüchtet seien, berichtet Helal. Nur selten würden die im Belästigungsparagrafen 306 genannten Haftstrafen tatsächlich verhängt. Weil sie sich nicht auf die Behörden verlassen will, beschloss sie, selbst aktiv zu werden. „Wir brauchen ein stadtweites Netzwerk aus Zeugen und schnellen Helfern“, sagt Helal. Für die Studentin war deshalb klar: Nur eine App kann das leisten. Wir bestellen uns in Sekundenschnelle Fahrer, Pizzalieferanten oder Postboten, warum soll das nicht auch mit Helfern in der Not möglich sein?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Wenige Fußminuten vom Café entfernt befindet sich der Tahrir-Platz, der während des Arabischen Frühlings weltweite Bekanntheit erlangte. Dort waren am 25. Januar 2011 hunderttausende Demonstranten zum „Tag des Zorns“ zusammengekommen. Sie gaben der Arabellion ein Gesicht und führten den Sturz des damaligen Präsidenten Husni Mubarak herbei. Der tiefgreifende Wandel des Landes scheiterte jedoch, 2013 kam es zum Militärputsch.
Der Tahrir-Platz, heute kontrolliert von schwerbewaffneten Soldaten, ist nicht nur Sinnbild des Aufstands, sondern steht auch für Gewalt gegen Frauen: Immer wieder kam es dort zu Übergriffen, sogar zu Gruppenvergewaltigungen. Unter den Opfern der Proteste befand sich Lara Logan, Reporterin des amerikanischen Senders CBS. 25 Minuten lang wurde sie von einem Mob aus Demonstranten vergewaltigt.
„Was damals an einem Ort konzentriert geschah, erleben wir in unserer Gesellschaft täglich immer wieder“, sagt Shadw Helal. Wenn sie über die Gewalt gegen Frauen spricht, wird die sonst ruhige Ägypterin laut, formt ihre Hand zu einer Faust, nur um sie dann aus Rücksicht auf die anderen Cafébesucher sanft auf den Tisch zu legen.
Mit ähnlichen Worten überzeugte Shadw Helal einen befreundeten Informatikstudenten. Gemeinsam mit einer Designstudentin machten sie sich an die Arbeit. Nach monatelanger Detailarbeit, Ausgaben von knapp 80.000 ägyptischen Pfund – etwa 3.700 Euro – und unzähligen Testläufen wurde aus der Idee eine funktionsfähige App namens „Rescue“.
Notruf mit einem Klick
Die funktioniert so: Jede Frau, die sich die kostenlose App auf ihr Smartphone geladen hat, kann in einer Bedrohungslage mit einem Klick einen Notruf entsenden. Ist für den Klick keine Zeit, reicht auch das laute Ausrufen von „Rescue“. Die Sprachsteuerung erkennt den Hilferuf und aktiviert das Netzwerk. Dieser wird nicht nur an die von ihr vorher bestimmten Freunde und Familienangehörigen verschickt, sondern an alle als Helfer registrierten Menschen in einem Umkreis von zwei Kilometern. Per GPS wird der Standort der bedrohten Frau ermittelt und erscheint innerhalb von Sekunden auf den Displays. Dazu ein Profilfoto und Anweisungen, wie man am besten aushelfen kann.
Wurde ein Hilferuf gesendet, können die Frauen und Helfer nach dem Vorfall eine Bewertung abgeben. Mit dieser Funktion wollen die Macher absichtlichen Fehlalarmen vorbeugen. Zudem müssen alle User ihr Profil mit ihrem Ausweis verifizieren. Trotzdem will „Rescue“ es den Beteiligten in Zukunft ermöglichen, anonym Details der Vorfälle zu teilen und diese regelmäßig zu veröffentlichen. „Nur so können wir über den Notfallknopf hinaus Sichtbarkeit schaffen“, sagt Shadw Helal.
Seit Oktober kann die App heruntergeladen werden. „Dass wir damit zwei Tage vor dem ersten Artikel zur #MeToo-Debatte erschienen sind, war für unser Anliegen natürlich eine große Sache.“ Bei Fernsehauftritten, in Radiointerviews und Zeitungsbeiträgen kam Helal zu Wort. Startup Scene, ein ägyptisches Magazin für Digitales, nahm sie sogar in die Liste der 25 einflussreichsten jungen Entwickler des Landes auf. Zuvor wurde Helal von WeMena, einem von der Weltbank initiiertem Wettbewerb für digitale Projekte arabischer Frauen, in Casablanca ausgezeichnet. Ihre App schaffte es unter die Top 200 aller von Frauen aus der Region entwickelten Anwendungen.
Enormer Zuspruch in sozialen Medien
Auch in Ägypten unterstützen viele ihre Idee. Schon in den ersten Tagen der #MeToo-Debatte erlebte Helal einen enormen Zuspruch in den sozialen Medien. Jetzt möchte sie diesen Rückenwind nutzen und sich beim nationalen Frauenrat um Unterstützung bewerben, danach soll eine Anfrage beim UN-Organ für Gleichstellung und Frauenförderung folgen.
Auch deshalb ist Shadw Helal vorsichtig, wenn es darum geht, die Untätigkeit der Polizei und der Politik anzuprangern. Sich gegen den seit dem Putsch regierenden Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi zu stellen, könnte das Ende für ihr Projekt bedeuten. Stattdessen integrierte sie alle Telefonnummern von Dienststellen der Sicherheitskräfte und Krankenhäusern in die App. Shadw Helal ist sich durchaus bewusst, dass sie mit ihrem Projekt auf einem schmalen Grat wandert. Vor wenigen Monaten setzte al-Sisi das international umstrittene NGO-Gesetz in Kraft. Das Gesetz stellt sämtliche Nichtregierungsorganisationen unter staatliche Beobachtung, ermöglicht hohe Strafen und will verhindern, dass ausländische Gelder in ihre Arbeit fließen.
Auch abseits der Regierung hat Helal mit Widerstand zu kämpfen. „Rescue“ polarisiert. Ägypten ist ein zutiefst islamisch-konservativ geprägtes Land. Eine Umfrage der Vereinten Nationen zeigt, welches Frauenbild in der patriarchalen Gesellschaft herrscht: Mehr als 90 Prozent aller ägyptischen Männer wollen zu jeder Zeit wissen, wo sich ihre Frau aufhält, sie wollen bestimmen, was sie anziehen darf und mit wem sie das Haus verlässt. 96 Prozent der Männer gaben an, zu erwarten, dass die Ehefrau zum Geschlechtsverkehr bereit sein muss, wann immer der Mann es wünscht.
Frauen dürfen nicht selbst über ihre Sexualität bestimmen – diese Haltung schlägt sich auch in der ägyptischen Rechtsprechung nieder. Die Sängerin Shaimaa Ahmad leckte in einem Musikvideo an einer Banane. Sie wurde wegen „Anstachelung zu öffentlicher Unzucht“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Gleich drei Jahre hinter Gitter muss die Fernsehmoderatorin Doaa Salah. Sie hatte in ihrer beliebten Talkshow darüber gesprochen, dass Frauen auch außerhalb der Ehe Kinder bekommen können. Der Anwalt Nabih al-Wahsh verkündete derweil in einer Talkshow, dass es „nationale Pflicht“ sei, „Frauen in zerrissenen Jeans zu vergewaltigen“. Immerhin: Er wurde inzwischen zu drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt.
Der Bedarf für die App ist da: Allein im November und Dezember kam sie in 287 Fällen zum Einsatz. 600 aktive Helfer gibt es bereits in Kairo, über 3.000 Frauen haben sich ein Profil angelegt. Kürzlich hat Helal sie alle kontaktiert und zu einem kostenlosen Selbstverteidigungsworkshop eingeladen. „Wir wollen die vielen Frauen dazu empowern, sich wehren zu können und auch sie zu freiwilligen Helferinnen ausbilden“, sagt Helal. Was mit einem Anruf begann, soll zu einem großen Netzwerk erwachsen und in Form eines digitalen Rettungsschirms irgendwann die ganze Stadt umspannen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil