Hersteller nehmen Präparate vom Markt: Kampf um Krebsmedikamente

Die Pharmaindustrie streitet mit den Kassen um angemessene Preise für Krebsmedikamente – und die Patienten verlieren.

Bunte Pillen und Tabletten liegen auf einem Haufen

Medikamente werden vom Markt genommen – und die Patienten leiden Foto: dpa

BERLIN taz | Das nicht-kleinzellige Lungenkarzinom ist ein Krebs der üblen Sorte: Er ist aggressiv, bildet Metastasen und zuweilen eine Mutation, die resistent ist gegen herkömmliche Arzneimittel. Lungenkrebspatienten in einem derart fortgeschrittenen Stadium stand bis vor kurzem lediglich eine Chemotherapie zur Verfügung – die Wirksamkeit eingeschränkt, die Nebenwirkungen heftig.

Umso euphorischer reagierten die Arzneimittelzulassungsbehörden in den USA und in Europa, als der Pharmahersteller AstraZeneca erste Studiendaten zu einem neuen Wirkstoff präsentierte: Osimertinib, ein so genannter Kinasehemmer. Auch er versprach keine Heilung, konnte aber erstmals die mutierte Krebsform vorübergehend in ihre Schranken weisen. Die Erkrankten hatten so ein um rund zehn Monate längeres und vor allem erträglicheres Leben.

Ein Durchbruch, von dem Patienten schnell profitieren sollten: Im beschleunigten Verfahren wurde Osimertinib, Handelsname Tagrisso, im November 2015 in den USA und im Februar 2016 in Europa zugelassen. Von einer „optimalen, gezielten Behandlung“ spricht die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Doch ausgerechnet dieses viel gelobte Medikament droht nun vom deutschen Markt komplett zu verschwinden: Grund ist der Streit um den künftigen Erstattungspreis von Tagrisso durch die gesetzlichen Krankenkassen.

Bei den am Mittwoch in Berlin beginnenden Verhandlungen zwischen Kassen und Hersteller könnte er eskalieren. Das jedenfalls befürchtet Dirk Greshake, Geschäftsführer von AstraZeneca Deutschland: „Wir wissen um das Leid der Patienten und müssen gleichzeitig abwägen, zu welchem Preis wir einen Marktverbleib ermöglichen können“, so Greshake zur taz.

„Unakzeptabel“ sei für sein Unternehmen die drohende Einstufung des neuen Medikaments – seine Jahrestherapiekosten liegen derzeit bei rund 100.000 Euro – in das Preisniveau von Chemotherapien, also 40.000 bis 60.000 Euro: „Damit wäre ein Marktverbleib höchst zweifelhaft.“ Für die Industrie rentiere sich der Verkauf dann nicht mehr.

Kompliziertes Verfahren

Patienten müssten in diesem Fall zwar nicht gänzlich auf Osimertinib verzichten. Denn trotz der Marktrücknahme bliebe das Medikament ja in ganz Europa zugelassen – und somit auch in Deutschland weiterhin erstattungsfähig, theoretisch jedenfalls. Es muss dann allerdings vom Arzt verordnet und über einen so genannten Einzelimport aus dem Ausland durch eine spezialisierte Apotheke bezogen und anschließend hierzulande von den Kassen individuell erstattet werden.

Das Verfahren ist kompliziert, viele Ärzte kennen es nicht, der Kampf mit den Kassen kann zäh sein. „Hier wird ein politischer Streit auf dem Rücken der Krebspatienten ausgetragen“, warnt die medizinische Fachgesellschaft DGHO.

Denn: Wie kann es sein, dass ein viel versprechendes, innovatives Medikament plötzlich in einer Preisklasse mit weitaus weniger wirksamen Chemotherapien rangieren soll? Der Fehler, das räumen selbst Vertreter von Krankenkassen ein, solange man sie nicht namentlich zitiert, liegt im System: Das beschleunigte Verfahren, nach dem auch Osimertinib zugelassen wurde, ist nicht kompatibel mit der Methodik späterer Bewertungsverfahren, die ein Medikament in Deutschland auf dem Weg zur endgültigen Preisfindung durchlaufen muss.

Im beschleunigten Verfahren werden, vereinfacht gesagt, an die klinischen Studien geringere Anforderungen gestellt als üblich. Manche Daten etwa, die nur zeitaufwendig generiert werden können, dürfen die Pharmafirmen später nachreichen.

Die Krux: Für die nächste Hürde, die sogenannte frühe Nutzenbewertung, die das Medikament bestehen muss, um einen guten Preis zu erzielen, gelten in Deutschland völlig andere methodische Regeln. Hier werden häufig Studien verlangt, die für die Zulassung nicht erforderlich waren beziehungsweise bei der beschleunigten Zulassung noch gar nicht vorliegen konnten. Die Konsequenz: Bei der Zulassung erfolgreiche Medikamente fallen bei der Nutzenbewertung häufig durch.

Leider kein Zusatznutzen

Auch für Osimertinib urteilte im September der Gemeinsame Bundesausschuss, das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, aus formal-methodischen Gründen könne leider kein Zusatznutzen festgestellt werden. Für die Kassen sind das gute Nachrichten: mit einem Ausgabenvolumen von rund 35 Milliarden Euro und einem Anteil von 17,2 Prozent an den gesamten Leistungsausgaben hat der Arzneimittelbereich 2015 einen Rekordwert erreicht. Für die Industrie indes sind derlei Beschlüsse vernichtend. Denn einzig die Nutzenbewertung bildet die Grundlage für die späteren Preisverhandlungen.

Für AstraZeneca besonders unverständlich: Andere europäische Länder kommen in ihrer Nutzenbewertung zu völlig anderen Ergebnissen. In Großbritannien etwa sprach das National Institute for Health and Care Excellence (NICE), bekannt für seine Strenge und Unerbittlichkeit bei der Nutzenbewertung, Osimertinib im Oktober einen hohen Zusatznutzen zu.

In Deutschland dagegen sind Schicksale wie das von Osimertinib kein Einzelfall: Allein im September sprach der Gemeinsame Bundesausschuss zwei weiteren im beschleunigten Verfahren zugelassenen Wirkstoffen gegen Krebs (Ramucirumab gegen Dickdarm- und Lungenkrebs, Necitumumab gegen Lungenkrebs) keinen Zusatznutzen zu, obwohl diese die Überlebenszeit der Patienten verlängern.

Ähnlich unbefriedigend lief es im Jahr zuvor für Ceritinib von Novartis gegen Lungenkrebs sowie für Regorafenib von Bayer gegen Darm- und Magenkrebs. Bayer nahm daraufhin im April 2016 Regorafenib vom deutschen Markt – hunderte Magenkrebspatienten in Deutschland stehen seither laut DGHO ohne Behandlungsalternative da.

Doch der große öffentliche Protest von Patienten und Ärzten, der dieser Entscheidung im Frühjahr folgte, hat die Regierung in Berlin bislang nicht erreicht: Im „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung“, das der Bundesgesundheitsminister vorige Woche dem Kabinett vorgelegt hat, wird die Problematik nicht einmal erwähnt.

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