: Heraus aus den Moralfallen!
Der Streit um Sozialkürzungen hat begonnen. Die Schlagwörter „Eigenverantwortung“ oder „Arbeitszwang“ helfen nicht weiter. Es geht um die Abfederung von Lebensrisiken
Die Pflöcke sind eingerammt. Einen „Großkonflikt“ prophezeit der Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske, wenn die Politik versuche, die Arbeitslosenhilfe zu kappen. Gleichzeitig tüftelt eine von Bundesarbeitsminister Riester neu eingerichtete Kommission an Möglichkeiten, wie man die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau senken könne. Auch der künftige Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, spricht sich für eine solche Kappung aus.
Der weiter gehende Vorschlag Gersters, sogar beim Arbeitslosengeld für Ältere zu kürzen, wurde zwar sogleich vom Bundesarbeitsminister abgelehnt, dennoch ist die politische Stoßrichtung klar: Es geht ans Eingemachte. Als Erstes steht die Arbeitslosenhilfe auf dem Prüfstand. Kommt es vor der Bundestagswahl noch zu Eckpunkten für ein neues Gesetz, ist eine heftige Sozialstaatsdiskussion programmiert. Denn der Streit um die Leistungen für Erwerbslose ist nicht nur ein Kampf um Kürzungen, sondern auch ein Streit um moralische Kategorien der sozialen Sicherung. Genau diese Kategorien müssen jedoch dringend überdacht werden.
Die alten Schlagwörter von links und rechts reichen dabei nicht aus, um eine fruchtbare Diskussion zu führen. Die Schlagwörter von „Eigenverantwortung“ oder auch „aktivierendem Sozialstaat“, mit dem die so genannten Neoliberalen und auch die Grünen Kürzungen befürworten, sind eher lästig. Sie lassen eine paternalistische Sichtweise auf die Arbeitslosen durchscheinen, so als handele es sich dabei um besonders unreife Menschen oder gar Patienten, die man wie ein Krankengymnast „aktivieren“ könnte.
Aber auch manche linken Milieus verwenden fragwürdige Begriffe. Politiker, die vorschlagen, bei der Arbeitslosenhilfe zu kürzen und Erwerbslosen mehr subventionierte Jobs anzubieten, wird vorgeworfen, sie wollten einen „Arbeitszwang“ ausüben. Dieser Begriff ist falsch. Niemand wird direkt gezwungen zu ackern. Wer allerdings Stütze bezieht, von dem wird gefordert, dafür eine Gegenleistung zu erbringen, etwa indem er sich erkennbar um einen neuen Job bemüht oder sich einer Beschäftigungsmaßnahme anschließt.
Wer den „Arbeitszwang“ für Joblose geißelt, weckt Ressentiments bei Beschäftigten, die sich montag früh auch ziemlich oft unter Arbeitszwang fühlen, mitunter sogar in verunglimpften „Billigjobs“, etwa in der Gastronomie, ackern und dabei auch noch Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Also Vorsicht mit diesen Schlagwörtern!
Um nicht in die alten Moralfallen zu tappen, muss man sich noch mal über die Grundsätze des Sozialsystems verständigen. Die Arbeitslosensicherung ist ein System aus Beitrags- und Steuerzahlern sowie Leistungsempfängern. Darin geht es um die Abfederung von Lebensrisiken, genauer um die Verteilung von Lebensrisiken zwischen den Individuen einerseits und dem Kollektiv der Beitrags- beziehungsweise Steuerzahler andererseits. Dabei bekommt man in Deutschland, wenn man seinen sozialversicherungspflichtigen Job verliert, erst Arbeitslosengeld, in der Regel bis zu ein Jahr lang. Danach gibt es die steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe, und zwar unbegrenzt. Eventuell erhält man noch aufstockende Sozialhilfe, wenn die Arbeitslosenhilfe das Existenzminimum nicht abdeckt.
Eine solche Kollektivsicherung kann jedoch kein heimlicher gesellschaftlicher Gegenentwurf sein. Sie ist immer auch abhängig von der wirtschaftlichen Gesamtsituation. Das erlebt man jetzt: Die Erwerbswelt hat sich gewandelt, immer mehr Menschen machen die Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Damit werden immer mehr Einzelrisiken auf das Kollektiv übertragen. So entstehen Spannungen. Das Gerede über die angeblich „faulen Arbeitslosen“ ist Ausdruck dieser Spannung.
Die Kollektivsicherung muss anpassungsfähig sein, um sie zu erhalten. Deswegen ist es richtig, die Verteilung von Risiken heute neu zu justieren. Im Sinne einer fairen Verteilung von Risiken und Chancen ist es angebracht, bei denen zu kürzen, die noch am ehesten Aussichten auf einen Job haben – und jene zu schützen, die ohne Chancen sind.
Dabei hilft eine biografische, verzeitlichte Sichtweise von Arbeitslosigkeit. Laut Studien sinken die Chancen, wieder einen Job in der Privatwirtschaft zu finden, dramatisch, je länger ein Mensch erwerbslos ist und je älter er wird. Jüngere Erwerbslose, die in der Joblosigkeit verharren, stellen also von Jahr zu Jahr ein steigendes Risiko für die Beitragszahler dar, möglicherweise eine jahrzehntelange „Arbeitslosenbiografie“ finanzieren zu müssen. Im Sinne einer Systemintegration ist es nicht unfair, den Anpassungsdruck auf diese Jüngeren zu erhöhen.
Es wäre deswegen nicht unangemessen, die Arbeitslosenhilfe beispielsweise für Leute bis 50 Jahre auf Sozialhilfeniveau abzusenken. Eine solche Anpassung der Arbeitslosenhilfe würde den Druck auf diese Erwerbslosen erhöhen, regional mobiler zu sein bei der Jobsuche und auch eine Stelle oder Beschäftigungsmaßnahme anzunehmen, die nicht der Erstqualifikation entspricht. Um all diesen Betroffenen Chancen zu eröffnen, müssten jedoch gleichzeitig die Programme für Lohnkostenzuschüsse ausgeweitet werden und ein qualifizierter zweiter Arbeitsmarkt erhalten bleiben.
Die persönlichen materiellen Einbußen wären vertretbar: Etwa drei Viertel der Empfänger von Arbeitslosenhilfe bekommen ohnehin nur eine Stütze, die das Existenzminimum kaum überschreitet. Würde man die Arbeitslosenhilfe abschaffen, erhielten die davon Betroffenen dann in jedem Fall ein Einkommen in Höhe der Sozialhilfe; sie würden sich damit materiell kaum verschlechtern.
Wenn man bei denen kürzt, die noch am ehesten Chancen haben, muss man gleichzeitig jene schützen, die ohne Jobaussichten sind. Genau deswegen sind alle Kürzungen bei Älteren abzulehnen, solange diesen nicht mehr Möglichkeiten geboten werden, wieder in den Jobmarkt zurückzukehren. Der Vorschlag Florian Gersters, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere zu kürzen, ist deswegen ebenso zurückzuweisen wie die Pläne, die Arbeitslosenhilfe sofort für alle Altersgruppen abzusenken.
Ein Beispiel: In Deutschland bekommen Erwerbslose, die älter sind als 52 Jahre, mehr als zwei Jahre lang Arbeitslosengeld. Würde man das Arbeitslosengeld für diese Gruppen auf ein Jahr begrenzen und die Arbeitslosenhilfe auch für diese Altersgruppen abschaffen, dann baute man eine kurze Rutschbahn in die Sozialhilfe für alle, die in höherem Alter ihren Job verlieren. Eine solche Kürzung ist ebenso wenig vertretbar wie eine generelle Kappung der Sozialhilfe für alle Erwerbsfähigen. Die Richtlinie in der Diskussion muss also lauten: Kürzungen in der Risikoabsicherung kann es nur geben, wenn man den Betroffenen neue Chancen eröffnet. Alles andere führt in eine Debatte um Verelendung. Es ist eine erhaltenswerte Tradition in Deutschland, dass diese Debatte niemand haben will. BARBARA DRIBBUSCH
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