Helmut Schmidt und das Klavier: „Ein laienhafter Spieler“
Bei Helmut und Loki Schmidt wurden an Heiligabend keine Weihnachtslieder geschmettert. Aber wichtig war die Musik für den SPD-Überkanzler.
Als seine Beamten erst die Zugänge gesichert hatten, spielten also der Noch-Bundeskanzler und die beiden Musikprofis rund eine Stunde lang auf drei Flügeln das Konzert für drei Klaviere F-Dur, dann war der Spuk schon wieder vorbei, so ist es überliefert. Drei Tage später dann spielten diese drei, zusammen mit dem London Philharmonic Orchestra, das Stück erneut: In den legendären Londoner EMI-Studios in der Abbey Road.
Dass da was war mit dem Ende 2015 verstorbenen Schmidt und dem Klavier, auch der Orgel: Das ist natürlich kein Geheimnis gewesen. Und trotzdem hat Reiner Lehberger – der alle paar Jahre ein Buch über, manchmal auch mit den Schmidts geschrieben hat – manch schönes Detail zutage gefördert über das Verhältnis des Langenhorner Pragmatikers zu den schwarzen und weißen Tasten.
Dass Schmidt beim Spielen „die Hektik der Hauptstadt“ – das überschaubare Bonn, wohlgemerkt – „und des politischen Amtes“ hinter sich ließ, das ist ein gern Überliefertes. Und natürlich, mit welchen wichtigen Männern auch des Musiklebens er so alles befreundet war; siehe auch die Steinway-Anekdote oben. Als „Hinterbühne“ beschreibt Lehberger die Rolle der Musik für Schmidt, dessen „große Bühne“ immer die Politik gewesen sei.
Reiner Lehberger: „Helmut Schmidt am Klavier“, Hoffmann und Campe 2021, 344 S., 24 Euro; E-Book 14,99 Euro
Loki Schmidt und Reiner Lehberger: „Auf einen Kaffee mit Loki Schmidt“, Atlantik/Hoffmann und Campe 2019 (zuerst 2010), 208 S., 10 Euro; E-Book 8,99 Euro
Nicht nur die, die er selbst spielte: Auch von einer nicht unbeträchtlichen Plattensammlung im Langenhorner Haus ist zu berichten, die das Ehepaar Helmut und Loki Schmidt noch zu Lebzeiten der Hamburger Musikhochschule übereignete: Rund 1.000 Stück holte Hochschulpräsident Elmar Lampson im Jahr 2007 ab, ganz überwiegend, was man so Klassik nennt, genauer besehen aber fanden sich Barock und Romantik, Klassik und Moderne; dazu eine kleine Auswahl Jazz. Viel Bach, so ist bekannt, auch die Einspielungen des nicht in jedem deutschen Bürgerhaushalt wohlgelittenen Glenn Gould. Seit 2019 sind all diese Scheiben wieder zurück im Schmidt’schen Haus: In Zeiten der Digitalisierung hatte die Hochschule „keine angemessene Nutzung“ finden können.
Unter Schmidts Ägide fanden im Kanzleramt Konzerte statt, es kam zu mehreren „Berliner Kanzlerfesten“ in der dortigen Philharmonie, auch lud man immer wieder Musiker ein ins bescheidene Häuschen am Brahmsee südwestlich von Kiel oder auch in den Bonner Kanzlerbungalow.
„Ohne Musik wäre mein Leben wahrscheinlich ganz anders verlaufen“: Diesen Satz aus dem Jahr 2008 stellt Lehberger an den Anfang des Buches – und mutmaßt an anderer Stelle, ob der Mann, der sich selbst schon mal als „laienhaften Klavier- und Orgelspieler“ bezeichnet hat, nicht just beim fleißigen Üben jene Qualitäten trainiert hat, für die er sich auch als Politiker einen Ruf erwarb: Disziplin, Fleiß, all so was.
Glücklicherweise setzt der Biograf den Spalt zwischen dem Politik- und dem Musikmenschen nicht als tiefer in Szene, als er es verdient: In der Person Schmidts, schreibt er, „ist die Verwobenheit der eigenen Lebensgeschichte mit der jüngeren deutschen Geschichte fast exemplarisch ausgeprägt“ – und so erfahren wir eben auch von einer Klavierlehrerin, die 1935 zum „Mischling ersten Grades“ erklärt wurde.
Oder eben dem Umstand, dass dem Soldaten Helmut Schmidt das Musizieren dazu gedient haben mag, eine Art innerer Balance zu bewahren. Und so wie er auch zu anderen Künsten und denen, die sie ausübten, Nähe suchte, dürfte Schmidt die Musik – das Ausstellen seines engen Verhältnisses dazu – auch genutzt haben, das zuweilen ungeliebte Macher-Image um andere Facetten zu bereichern.
Ein Bach-Choral im dunklen Hamburg
Es gibt eine weihnachtliche Anekdote, ebenfalls aus dem Jahr 1942, die das Klavierbuch erwähnt; leicht variierend hat sie aber vor über zehn Jahren auch Loki Schmidt Lehberger erzählt: Weihnachten 1942 gingen die Eheleute spazieren durchs verdunkelte Hamburg-Eilbek, als vom nahen Kirchturm Musik erklang: Laut der einen Fassung war es eine einzelne Trompete, der anderen zufolge gleich vier Posaunen, die den Bach-Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ spielten.
„Es war noch ein halbes Jahr vor der Hamburger Bombenkatastrophe“, so zitiert Lehberger Schmidt, „aber wir rechneten bereits mit einem schrecklichen Ende Deutschlands. Doch an diesem Abend führten uns die Posaunen in eine unbeschreibliche Rührung – und zugleich gewannen wir neue Lebenskraft.“
Dass Helmut Schmidt sich danach, 1943 und 44 freiwillig für den Kampfeinsatz an der Front meldete: Es gehört wohl in diese Art deutscher Geschichten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los