Hausarzt über Corona und LehrerInnen: „Keine Gefälligkeitsatteste“
Es geht zurück an die Schulen. Wolfgang Kreischer vom Hausärzteverband Berlin und Brandenburg erklärt, wann LehrerInnen zur „Risikogruppe“ zählen.
taz: Herr Kreischer, Lehrerinnen und Lehrer, die Angst vor den Folgen einer Ansteckung mit dem Coronavirus haben und deswegen nicht in den Präsenzunterricht gehen wollen, müssen ab sofort ein ärztliches Attest bringen, das bescheinigt, dass sie zu einer Risikogruppe gehören. Wie beurteilt ein Hausarzt das?
Wolfgang Kreischer: Ich hatte zwei solcher Fälle, wo wir dann bestätigt haben, dass es sich um Risikopatienten handelt. Das Ganze ist keine Krankschreibung, keine Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit, sondern eine Bescheinigung in Form eines sogenannten Dreizeilers, dass man zu einer Risikogruppe gehört.
Nach welchen Kriterien beurteilen Sie das? Nach der Liste des Robert-Koch-Instituts mit relevanten Vorerkrankungen?
Die Risikoabschätzung ist immer individuell und richtet sich nach der Schwere der Krankheit. Das muss man aus der Gesamtschau des Patienten beurteilen. Wenn ich einen Asthmatiker hätte, der Ende 50 und gut eingestellt ist, dem würde ich ein solches Attest nicht geben. Aber wenn ich einen Asthmatiker hätte, auch wenn er jünger ist, bei dem wir dauernd die Medikamente anpassen müssen, der immer wieder Infekte hat, dem würde ich ein solches Attest ausstellen. Das kann ein Hausarzt machen, weil er den Patienten am besten kennt.
69, ist niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin und Vorsitzender des Hausärzteverbandes Berlin und Brandenburg e. V. (BDA).
Auf der Liste des Robert-Koch-Instituts stehen auch Diabetiker. Von Diabetes sind in Deutschland 7 Millionen Menschen betroffen.
Die Liste des Robert-Koch-Instituts ist eine hilfreiche Unterstützung, aber nach 35 Jahren hausärztlicher Tätigkeit kann ich auch allein entscheiden. Diabetiker, die gut eingestellt sind, gehören grundsätzlich nicht zur Risikogruppe. Nur ein Diabetiker mit Begleiterkrankung oder extrem schwer einstellbarem Diabetes gehört für mich zur Risikogruppe.
In Berlin und anderen Bundesländern müssen LehrerInnen ab sofort ein ärztliches Attest vorlegen, um nachweisen, dass sie aufgrund von Vorerkrankungen nicht zum Präsenzunterricht verpflichtet werden können. Sie müssen dann aber zumindest Fernunterricht geben.
Zu Beginn der Coronakrise reichte vielerorts eine schlichte Meldung an die Schulbehörde, dass man zur Risikogruppe gehöre. Auch das Alter galt als Grund für eine Freistellung. In Baden-Württemberg etwa hatten sich rund 20 Prozent der LehrerInnen vom Präsenzunterricht freistellen lassen.
Die Liste der „Risikogruppen“ des Robert-Koch-Instituts umfasst unter anderem Menschen mit Herz- und Kreislauferkrankungen, Lungenerkrankungen, Diabetes, Krebs oder geschwächtem Immunsystem. Das RKI spricht sich aber grundsätzlich für eine „personenbezogene“ statt einer generellen Risikoeinschätzung aus. (BD)
Gibt es Krankheiten, bei denen klar ist, dass jemand zur Risikogruppe zählt?
Ich würde sagen, alle möglichen Krebserkrankungen gehören dazu. Auch nach einem Herzinfarkt oder nach einem Schlaganfall gehört man zur Risikogruppe. Nach einem Herzinfarkt ist die Pumpleistung des Herzens schlechter und eine Lungenentzündung sehr gefährlich.
Das Alter allein ist also kein Kriterium?
Nein. Ich kann mir auch eine 28-Jährige vorstellen, die an allergischem Asthma leidet und zu Lungenentzündungen neigt; die ist gefährdet, auch wenn sie jung ist.
In Thüringen zählten zwischenzeitlich auch Lehrer und Lehrerinnen zur Risikogruppe, die über 50 Jahre alt sind und rauchen.
Als die Coronamaßnahmen begannen, rief eine Patientin bei mir an, die meinte, sie gehöre zur Risikogruppe, sie sei 55 Jahre alt und würde rauchen. Da habe ich gesagt: Nein, Sie gehören nicht zur Risikogruppe. Wer raucht, der soll aufhören zu rauchen. Wenn man diese Kriterien gelten lassen würde und dann noch mal eine Pandemie käme, dann könnte ja kaum noch einer arbeiten. Wir Ärzte haben auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Wenn die Leute nicht mehr arbeiten, Unterricht und Hortbetreuung ausfallen, kommen die Kinder zu kurz, die Arbeitgeber geraten in die Bredouille.
Patienten würden sagen, der Arzt hat eine Verantwortung auch für mich. Kann es da nicht zu Konflikten kommen?
Ja, Konflikte kann es schon geben. Aber ich bin nicht bereit, Gefälligkeitsatteste auszustellen. Wenn solche Patienten dann zu anderen Ärzten gehen sollten, dann nehme ich das in Kauf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“