Proteste in Russland: Tausende gedenken Boris Nemzow
In Moskau wird an die Ermordung des Kreml-Kritikers vor sechs Jahren erinnert. Alexej Nawalny wird für seine Zivilcourage ausgezeichnet.
„Wir kommen jedes Jahr an diesem Tag hier zusammen, um den Behörden zu zeigen, dass wir nicht vergessen haben und nicht vergessen werden“, sagte der ehemalige Ministerpräsident und Oppositionspolitiker Michail Kasjanow vor Journalisten. Er sei sicher, dass „das, wofür Boris gekämpft hat – Freiheit für die Russen, ihr Wohlbefinden und ein Leben in Würde – bald kommt“, ergänzte er.
Während in den vergangenen Jahren ein Gedenkmarsch im Zentrum von Moskau stattfand, zog die Opposition in diesem Jahr zum Tatort, wo eine improvisierte Gedenkstätte von den Behörden immer wieder zerstört wird. Demonstrationen sind derzeit wegen der Coronapandemie verboten. Laut der Nichtregierungsorganisation Weißer Zähler, die Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen angibt, hatten bis 15.00 Uhr Ortszeit (13.00 Uhr MEZ) rund 3700 Menschen den Anschlagsort besucht.
Unter den westlichen Vertretern, die Nemzows gedachten, waren auch die Botschafter der USA, Großbritanniens und der EU. US-Botschafter John Sullivan habe an die „brutale Ermordung“ Nemzows erinnert, erklärte Botschaftssprecherin Rebecca Ross im Online-Dienst Twitter. „Er bleibt eine Inspiration für viele, die nach Gerechtigkeit, Transparenz, Freiheit streben“, erklärte sie.
Kritik an Einschränkungen der Redefreiheit
Auch US-Außenminister Antony Blinken erinnerte an den ermordeten Putin-Kritiker. In einer Erklärung zeigte sich Blinken am Samstag „zutiefst beunruhigt“ über die zunehmenden Einschränkungen der Redefreiheit durch die russische Regierung. „Während wir Nemzow gedenken, bekräftigen wir unser unerschütterliches Bekenntnis zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten“, erklärte Blinken. Nemzow habe sein Leben dem Aufbau eines „freien und demokratischen Russlands“ gewidmet, fuhr der US-Außenminister fort.
„Jene, die in Russland ihre Meinung sagen, um ihre Freiheiten und die Demokratie zu verteidigen, geraten nach wie vor ins Visier für Angriffe oder Mordanschläge“, kritisierte Blinken. „Die russische Bevölkerung hat etwas Besseres verdient.“
Russlands damals prominentester Oppositioneller Nemzow war am 27. Februar 2015 kurz vor Mitternacht in der Nähe des Kreml erschossen worden. 2017 wurde ein ehemaliger Offizier aus Tschetschenien für den Mord zu 20 Jahren Haft verurteilt, vier weitere Männer wurden der Beihilfe zum Mord schuldig befunden. Die Familie und Anhänger Nemzows werfen den russischen Behörden jedoch vor, die Drahtzieher bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen zu haben.
„Er hat die Wahrheit ausgesprochen, und dafür wird man in unserem Land umgebracht“, sagte die 44-jährige Juristin Irina Drosdowa am Samstag, bevor sie am Gedenkort für Nemzow Blumen ablegte.
Auszeichnung für Alexej Nawalny
Der derzeit wichtigste Widersacher Putins, Alexej Nawalny, wurde in den vergangenen Tagen in ein Straflager gebracht. Er war wegen angeblicher Verstöße gegen seine Bewährungsauflagen zu mehr als zwei Jahren Haft in einem Straflager verurteilt worden. Die Entscheidung wurde international scharf verurteilt und löste Massenproteste in Russland aus.
Nawalny war nach einem Giftanschlag im August, für den er den Kreml verantwortlich macht, in Deutschland im Krankenhaus behandelt worden. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Russland im Januar wurde er festgenommen. Seine Unterstützer kritisieren das Vorgehen der Justiz gegen ihn als politisch motiviert.
Sechs Jahre nach der Ermordung des russischen Oppositionellen Boris Nemzow hat die nach ihm benannte Stiftung den inhaftierten Kremlgegner Alexej Nawalny für seine Zivilcourage ausgezeichnet. Der 44-Jährige erhalte in diesem Jahr den Nemzow-Preis für seinen Mut bei der Verteidigung der demokratischen Werte in Russland, teilte die Stiftung am Samstag zum Jahrestag der Ermordung des früheren Vize-Regierungschefs mit.
Nemzows Tochter Schanna Nemzowa sagte im Interview mit dem russischen Portal snob.ru, dass das „autoritäre Regime“ in Russland immer aggressiver werde. Putin werde sich bis zum Schluss an die Macht klammern, meinte sie. Die Nemzow-Stiftung würde den Preisträger Nawalny als „Symbol des Widerstands gegen Tyrannei in der Welt“. Und sie forderte die sofortige Freilassung des Putin-Kritikers.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“