Häusliche Gewalt: Mein Vater, der Schläger
Meine Familie hat häusliche Gewalt erlebt – Unterstützung fehlte damals. Es braucht die Umsetzung der Istanbul-Konvention und Solidarität von Männern.
Es hat mich Jahre gekostet, um die Ausmaße der Gewalt meines Vaters zu verstehen. Als ich noch zu Hause lebte, hatte ich große Angst vor seinen erbarmungslosen Schlägen. Mit voller Wucht trafen sie mich im Gesicht, auf dem Rücken, in der Magengrube, zwischen den Beinen. Sie kamen unerwartet und grundlos. Mal trafen seine Schläge mich, mal meine Schwestern und immer wieder meine Mutter.
Die innere Anspannung, dass einer von uns jederzeit geschlagen werden kann, trage ich auch nach Jahrzehnten in mir. Keine Therapie, keine noch so raffinierte Meditationstechnik konnten dauerhaft diese Angst beheben. Es hat mir das Herz gebrochen zu sehen, wie mein Vater meine Mutter wegen Banalitäten niederschlug. Und wir Kinder standen einfach wie erstarrt da. Ich hätte sie so gerne beschützt, doch konnte es nicht.
Wäre die türkische Regierung vor wenigen Wochen per präsidialem Dekret nicht über Nacht aus der Istanbul-Konvention ausgestiegen, hätte ich vermutlich die häusliche Gewalt meiner Kindheit in Hannover weiter verschwiegen, so wie meine Mutter, meine Schwestern und meine Halbschwester. Wir wussten, dass die rohe Brutalität meines Vaters nicht allein eine familiäre, sondern eine gesellschaftliche Angelegenheit war, nur fehlte uns damals die Sprache – wie auch die Unterstützung von außen. Wehrlos waren wir allein auf uns gestellt, wie heute zahlreiche andere Familien.
Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag von 2011, benannt nach dem Ort des Übereinkommens. Bis 2020 unterzeichneten ihn 45 Länder. Über verbindliche Rechtsnormen will die Konvention Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt unterbinden. In Deutschland ist das Abkommen 2018 in Kraft getreten. Aber auch nach drei Jahren ist die für die Umsetzung benötigte Koordinierungsstelle noch nicht eingerichtet. 34 Länder haben dieses Abkommen noch nicht ratifiziert oder haben es nicht mehr vor. Die Türkei ist das einzige Land, das nach dem Inkrafttreten der Konvention diesen Vertrag aufkündigt.
300 registrierte Tötungen von Frauen
Dabei belegte die Frauenrechtsgruppe Kadın Cinayetlerini Durduracağız (Wir werden Frauenmorde stoppen) mit erschreckenden Zahlen den Handlungsbedarf der türkischen Regierung. Allein letztes Jahr gab es 300 registrierte Tötungen von Frauen. 171 weitere Todesfälle lassen Mord vermuten, wurden aber teilweise als Suizide verschleiert. Die Porträts dieser Frauen halten die Protestierenden in Istanbul hoch, wenn sie, wie in den letzten Wochen, auf den Straßen die Entscheidung der Regierung rückgängig zu machen versuchen. Ein unverhältnismäßiges Sicherheitsaufgebot an militärisch aufgerüsteter Polizei bewacht die Demonstrationszüge.
Bis zum Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention mochte ich nicht verstehen, warum eine erwachsene Frau wie meine Mutter sich nicht aus den Gewaltverhältnissen ihres Ehemanns löst. So hätte sie sich und ihre Kinder beschützen können. Wenn ich sie darauf ansprach, versuchte sie scheinbar plausible Gründe zu nennen. Sie sagte über meinen Vater, er würde sich schon irgendwann bessern, oder dass er uns schlug, um uns zu bessern. Etwas hielt sie in dieser Ehe, das mein Verständnis überstieg. Sie konnte es besser aushalten, wenn er ihr Gesicht grün und blau schlug, als ihr Gesicht vor Verwandten, Nachbar:innen und Freund:innen zu verlieren. Einige waren Zeug:innen dieser Gewalt – und doch ermunterten sie meine Mutter, ihre Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten. Und das tat sie auch.
Die Istanbul-Konvention hätte Frauen wie sie durch psychologische Betreuung, rechtliche und finanzielle Beratung oder Bildungsangebote auf ihrem Weg zur Selbstbestimmung unterstützen können. Leistungen, die Angehörige oder Freund:innen nicht erbringen können.
Ohne solche Hilfe musste meine Mutter Komplizin dieser Gewalt werden, um zu überleben. Also bläute sie meinen Schwestern ein, sich unterzuordnen. Als diese sich viele Jahre später von ihren gewalttätigen Ehemännern trennen wollten, versuchte meine Mutter, sie einzuschüchtern. Und als sie es dann doch taten, hat sie sich mit deren Ehemännern solidarisiert.
Die Gewalt existiert weiter
Auf mich redete sie inbrünstig ein, dass Söhne sich nicht gegen den eigenen Vater auflehnen dürften. Je mehr mein Vater mich schlug, desto pathetischer forderte sie bedingungslose Liebe für ihn ein. Dabei verachtete er uns ganz offen. Mit 16 hatte ich diesen mythologischen Bann gebrochen und zurückgeschlagen. Ihn im Schwitzkasten festgehalten. Es war, als würde ich über sein Leben und seinen Tod entscheiden. Gleich im Anschluss bin ich von zu Hause abgehauen, als ich zurückkehrte, kam ich mir wie ein Verräter vor.
Ich dachte, dass die Gewalt meines Vaters nach seinem Tod mit ihm begraben worden sei. Er und ich haben kaum miteinander gesprochen. Wenn ich ihm mit Freunden auf der Straße begegnete, begrüßte er mich nicht. Aus Angst, er könnte unberechenbar gewalttätig werden oder sich für mein Verhalten bei meiner Mutter rächen, habe ich ihn selbst als Erwachsener nicht zur Rechenschaft gezogen, und er wiederum hat sich nie dafür entschuldigt. Nicht bei mir, nicht bei meiner Mutter oder meinen Schwestern. Auch musste er nie sein Verhalten erklären. Weder vor sich, noch vor uns, noch vor der Gesellschaft.
Mein Vater ist tot – aber seine Gewalt lebt in anderen Männern weiter, die ihre Ehefrauen misshandeln oder gar töten. Der Kampf für eine gewaltfreie Umgebung geht von Frauen aus, betrifft sie aber selbstverständlich nicht allein. Auch Männer müssen die stereotypen und repressiven Rollen zurückweisen, die ihnen die türkische Regierung etwa durch den Austritt aus der Istanbul-Konvention überträgt.
Wenn der türkische Präsident Erdoğan als Begründung für den Austritt den Schutz der Ehe angibt, müssen Gegenfragen gestellt werden: Was an der Ehe wird geschützt, wenn Frauen entmenschlicht und entrechtet werden? Wenn die Regierung als offizielle Begründung für den Austritt die Befürchtung äußert, dass die Istanbul-Konvention Homosexualität fördere, dann müssen wir alle, ob homosexuell oder heterosexuell, cis oder trans, Männer oder Frauen oder nichtbinäre Personen, ob in der Türkei oder anderswo lebende Menschen, diese Aufforderung zum homofeindlichen Schulterschluss zurückweisen.
Toxische Männlichkeit ist ein Kerker, selbst für solche Gewalttäter wie meinen Vater. Das kann nur anders werden, wenn der Kampf um Rechte und Unterstützung eben nicht nur der von Frauen und Queers ist, sondern auch der Kampf der Männer, die aus diesem gewaltvollen Gefängnis rauswollen und sichtbar die Istanbul-Konvention verteidigen.
Gürsoy Doğtaş ist Kunsthistoriker an der Universität für angewandte Kunst in Wien und Stipendiat der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.
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