Gymnasiallehrer über Hochschulreife: „Müssen wirklich alle studieren?“
Lehrer Heinz-Peter Meidinger fürchtet um die Qualität des Abiturs und um das Niveau seiner Schulart, wenn der Anteil der Schüler dort weiter steigt.
taz: Herr Meidinger, aktuell beginnen mehr Schulabgänger ein Studium als eine Lehre. Gibt es zu viele Abiturienten?
Heinz-Peter Meidinger: Ich glaube nicht, dass es zu viele Abiturienten gibt, aber zu viele, die nicht studierfähig sind. Wir führen mittlerweile 50 Prozent zur Hochschulreife, aber die Qualität sinkt.
Das kann man auch als Kritik am Gymnasium begreifen.
Das Gymnasium ist nicht in erster Linie betroffen. Es gibt mittlerweile viele Wege zum Abitur.
Ein Plädoyer dafür, dass das Abitur exklusiv vom Gymnasium vergeben wird, andere Schularten sich auf niedrigere Abschlüsse beschränken?
Nein. Wir müssen größere Anstrengungen unternehmen, um Qualität und Vergleichbarkeit des Abiturs zu sichern und dafür sorgen, dass hinter der Studienberechtigung auch die Studienbefähigung steht.
Sollen mehr Abiturienten in die Ausbildung gehen, wie Bundesbildungsministerin Johanna Wanka oder der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin vorgeschlagen haben?
Der Vorschlag kommt ja nicht von ungefähr. Bei 30 bis 40 Prozent Studienabbrechern ist die Frage berechtigt, ob wirklich alle studieren müssen.
ist seit 2003 Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Als Oberstudienrat leitet er das Robert-Koch-Gymnasium in Deggendorf/Bayern.
Diese Frage richtet sich ja auch an Sie. Ist es noch berechtigt, dass die Gymnasien Schüler exklusiv für den Hochschulzugang vorbereiten und die berufliche Ausbildung ignorieren?
Natürlich ist allgemeine Studierfähigkeit unser Hauptziel. Uns interessieren aber auch die Jugendlichen, die nach der Mittleren Reife rausgehen oder am Gymnasium den Hauptschulabschluss erwerben. Die Gymnasien haben große Anstrengungen unternommen, die Berufsorientierung zu intensivieren.
Das hört sich sehr nach Gesamtschule an.
Das Gymnasium steht in einem großen Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite wird erwartet, dass es allgemeine Studierfähigkeit vermittelt und die Leistungsstarken besser fördert, auf der anderen Seite soll es mit der heterogener gewordenen Schülerschaft besser umgehen und mehr auf die Schwächeren eingehen. Dabei hat sich schon vieles verbessert. Vor zwanzig Jahren haben wir noch bis zu 40 Prozent der Schüler verloren, heute sind es nur noch 20 Prozent. Gleichzeitig geht ein immer größerer Anteil der Schüler aufs Gymnasium.
Ist die Furcht begründet, dass das Gymnasium an Qualität verliert, wenn dort nicht mehr nur die Elite, sondern die Hälfte eines Jahrgangs unterrichtet wird?
Ja, diese Furcht ist begründet. Ich würde als Gymnasialvertreter natürlich gern das Hohelied aufs Gymnasium singen, aber in bestimmten Bereichen sehe ich Gefährdungen.
Können Sie mal ein konkretes Beispiel aus Ihrem Unterricht als Deutsch- und Geschichtslehrer angeben?
Das muss man im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen sehen. Als Bub hat man Karl May gelesen, und in der Pubertät ist man dann irgendwann vom Lesen abgekommen, weil andere Dinge wichtiger waren. Aber man war im Lesen sozialisiert und hat es dann wiederentdeckt. Heute kriege ich viele Schüler gar nicht mehr zum Lesen. Es gibt mittlerweile Abiturienten, die gestehen, dass sie außer den Games-Handbüchern noch nie irgendein Buch gelesen haben.
Das müssten sie aber laut Lehrplan?
Im Zuge der Einführung des achtjährigen Gymnasiums wurden die Lehrpläne entsprechend „entrümpelt.“ In einigen Bundesländern ist es im Zuge des G8 ja sogar erlaubt, Teillektüren zu lesen – also nicht mehr das ganze Buch, sondern nur noch Kapitel daraus. Auch im Fach Geschichte ist viel aus den Lehrplänen gestrichen worden. In manchen Bundesländern hören die Schüler nichts mehr von der attischen Demokratie, obwohl dass die Geburtsstunde unserer Demokratie ist.
Die attische Demokratie habe ich allerdings auch schon wieder vergessen.
Sie wissen aber, was gemeint ist. Lernen ist immer damit verbunden, dass Sie 90 Prozent wieder vergessen, das Entscheidende sind die 10 Prozent, die man behält und an die man neues Wissen andockt.
Was haben Sie denn behalten?
Obwohl ich sogar einmal sitzen geblieben bin, ist schon einiges hängen geblieben. Zum Beispiel in Geschichte oder sogar von Latein, wo ich in der Mittelstufe gar nicht so gut war, auch von Wahlfächern wie dem Philosophiekurs. Schulische Fächer haben auch die Funktion eines späteren Türöffners. Wenn ich in der Schule nie Kunstunterricht hatte, werde ich mich auch als Erwachsener dafür kaum interessieren. Insgesamt gesehen bleibt mehr hängen, als man denkt; das merkt man dann, wenn man es wieder braucht.
Eine Hoffnung, die Sie als Lehrer hegen?
Wenn ehemalige Schüler auch im späteren Leben Kontakt zu Lehrern halten, dann ja nicht, weil sie sagen: Das, was ich von Ihnen gelernt habe, habe ich im Proseminar toll gebrauchen können. Sie wenden sich eher an Lehrer, die für sie Vorbild waren, denen sie persönlich etwas verdanken.
Beispielsweise gute Noten? Die Zensuren werden statistisch gesehen immer besser, in Bayern wurde die Note 1 vor zwei Jahren doppelt so häufig vergeben wie 2006.
Heute versucht sich die Bildungspolitik bei Reformen auch dadurch Akzeptanz zu verschaffen, dass sie für gute Noten sorgt. Das ist einfacher, als für gute Leistungen zu sorgen. In meinem eigenen Bundesland wurden im Zuge der Einführung des G8 die mündlichen Noten in der Oberstufe massiv aufgewertet. Da mündliche Noten gerade in Sprachen oft die besseren sind, hat es einen Bestnotenschub gegeben. Auch in NRW wurde die Akzeptanz des vor mehreren Jahren eingeführten Landeszentralabiturs durch bessere Noten und schülerfreundlichere Prüfungen gefördert.
Man denkt, als Lehrer sagen Sie: Es liegt natürlich an uns Lehrern, dass der Unterricht besser geworden ist.
Ich möchte die Leistungen und Anstrengungen von Lehrern und Schülern nicht schmälern. Da wird schon Beachtliches geleistet. Aber dennoch sind die Schüler nicht in dem Maße besser geworden wie die Noten. Vor zwanzig Jahren erfüllte in Bayern ein Drittel der Schüler die Aufnahmekriterien fürs Gymnasium, heute die Hälfte. In vielen Bundesländern müssen Schulen die Durchfallquoten ihrer Abiturienten veröffentlichen. Da haben diese natürlich Interesse daran, dass nicht so viele durchfallen.
Das ist doch gut. Wenn das schon früher so gewesen wäre, wären Sie vielleicht gar nicht sitzen geblieben?
Für mich war dies ja vielleicht auch der notwendige Schuss vor den Bug, ich habe ab diesem Zeitpunkt erkannt, dass ich für meine Leistungen selbst die Verantwortung trage. Aber die Politik geht heute einen anderen Weg. Sie investiert nicht in die individuelle Förderung, um die Leistungen zu verbessern, sondern sie bestimmt wie etwa in Hamburg, dass keiner mehr durchfallen darf. Notenlifting ist einfacher als Leistungssteigerung.
Sie plädieren für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium und ein zusätzliches Schuljahr. Wieso kommt Ihre Kritik am sogenannten G8 so spät?
Ich habe 2003 das G8 mit einführen müssen. Ich bin damals Schulleiter geworden, und natürlich geht man nicht rum und sagt „Sch…-G8“. Schulleitungen wollen ja, dass Eltern und Schülern zufrieden sind. Also haben wir alles dafür getan, dass das G8 nicht auf dem Rücken der Schüler eingeführt wird. Klar hat man gesehen, dass es hakt. Statt einer eigentlich notwendigen neurhythmisierten Ganztagsschule wurde der Nachmittagsunterricht einfach an den Vormittag angepappt.
Was würden Sie heute anders machen?
Die Kernfrage lautet nicht G8 oder G9, sondern, was muss Schule heute Abiturienten vermitteln und wie viel Zeit braucht sie dafür. Und da sieht man, dass die Anforderungen gestiegen sind, wachsende Fremdsprachenkompetenz in Zeiten der Globalisierung, Wertevermittlung in einer Zeit zunehmender Heterogenität und Sinnkrisen, neben historischem auch mehr ökonomisches Wissen, Bewahrung der Menschheit und ihrer christlichen Schöpfungsgrundlagen.
Was ist mit muslimischen Grundlagen?
Auch die Muslime wollen die Schöpfung bewahren. Was ich sagen will: Ein Gymnasium muss heute deutlich mehr leisten als früher.
Das heißt, wir brauchen eigentlich ein G10 oder G11?
Ein gut gemachtes neunjähriges Gymnasium reicht. Wenn jemand – wie ich damals – ein Jahr länger braucht, dann sollte die Gesellschaft das aber kostenlos zur Verfügung stellen. Bildungszeit ist keine verlorene Zeit. Es gab überhaupt keinen inhaltlichen Grund, die Schulzeit zu verkürzen. Ich würde mir aber auch kein altes G9 wünschen.
Sondern?
Die Einführung des G8 hat dem Ausbau der Ganztagsangebote einen Schub gegeben. Dieser Schwung hätte auch dem G9 gutgetan. Einige Dinge, die man dem Gymnasium vorhält, also zu wenig Projekte, der Mangel an fächerübergreifendem Unterricht, haben mit fehlenden Zeitfenstern zu tun. Ein neunjähriges Gymnasium darf kein Zurück zum alten G9 sein.
In acht Jahren zum Abitur – das könnte ja auch das Alleinstellungsmerkmal der Gymnasien sein. Die anderen Schularten bieten das Abitur nach Klasse 13 an.
Ich habe ein anderes Verständnis von Gymnasium. Der Unterschied zwischen Gymnasium und anderen Schularten ist nicht die Zeitdauer, sondern dass das Gymnasium einen eigenen umfassenden Bildungsauftrag hat mit einer Fächerbreite wie keine andere Schulart. Damit möchte ich aber die anderen Schularten nicht abwerten. Nicht für jeden ist das Gymnasium die selig machende Schule.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Habeck wirbt um Fachkräfte in Kenia
Gute Jobs, schlechtes Wetter