Gutes Design und Wohnungen für alle: Wer hat's erfunden?
Was nach skandinavischer Gestaltung ausschaut, stammt oft aus Wien. Caroline Wohlgemuth über Österreichs vergessene Avantgarde.
wochentaz: Frau Wohlgemuth, Ihr Buch trägt den Titel „Mid-Century Modern. Visionäres Möbeldesign aus Wien“. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Caroline Wohlgemuth: Mich faszinieren die 1920er und 1930er Jahre, die Phase zwischen den beiden großen Kriegen. Wien erlebte damals eine Hochblüte in Kultur, Wissenschaft, Kunst, Architektur und Möbeldesign.
Caroline Wohlgemuth studierte Rechtswissenschaften und Kunstmanagement. Lebt in Wien. „Mid-Century Modern. Visionäres Möbeldesign aus Wien“ erschien reich illustriert im Verlag Birkhäuser, 296 Seiten, 49,95 Euro. Die Ausstellung „Atelier Bauhaus Wien – Friedl Dicker und Franz Singer“ läuft ab 24. 11. im Wien Museum.
Ein großer Komplex. Wie sind Sie vorgegangen?
Einer meiner liebsten Designer ist Josef Frank. Ihm widmete das Museum für angewandte Kunst (MAK), 2015 eine schöne Ausstellung. Er hat in Wien zu Beginn der 1920er Jahre an der Kunstgewerbeschule unterrichtet, also an der heutigen Angewandten (Universität für angewandte Kunst in Wien; d. Red.), und er hat den Österreichischen Werkbund mitbegründet. Um ihn herum begann ich zu recherchieren. Es wurde eine immer größere Gruppe überwiegend jüdischer Architekt:innen und Designer:innen. Sie haben das moderne Wien damals geprägt und mussten es ab Mitte der 1930er Jahre verlassen, sie wurden vertrieben und verfolgt.
Sie verwenden den Begriff Mid-Century Modern ausdrücklich für die Zeit in Wien vor dem Zweiten Weltkrieg. In der Fachliteratur gilt er eher für das Design der Nachkriegsmoderne, also die Zeit nach 1945?
Den Begriff hat die US-amerikanische Journalistin Carla Greenberg in den 1980ern geprägt. Sie fasste darunter das moderne Möbeldesign der 1950er Jahre. Die Nachkriegsmoderne war jedoch wesentlich von den Ideen der 1920er Jahre beeinflusst. Josef Frank etwa emigrierte 1933 nach Schweden, wo seine Entwürfe aus Wien durchgängig weiterproduziert wurden.
Er kehrte auch nach 1945 nicht nach Wien zurück?
Nein. Er war mit einer Schwedin verheiratet, Anna Sebenius, und wollte nicht zurück. Es gibt von ihm 200 Entwürfe für Stoffmuster und über 1.000 für Möbel und Lampen, die bis heute so oder so ähnlich in Schweden von der Firma Svenskt Tenn hergestellt werden. Wenn man sich das so anschaut, glaubt man vielleicht, es sei typisch schwedisches Design aus den 1950er und 1960er Jahren mit lockeren Verbindungen zu Ikea. Doch vieles geht auf das Wien der 1920er und 1930er Jahre zurück.
Was machte Wien um die Jahrhundertwende und dann in der Zwischenkriegszeit für die Entwicklung moderner Lebensstile so attraktiv?
Adolf Loos oder Josef Hoffmann und Koloman Moser kennen heute viele. Moser und Hoffmann gründeten die Wiener Werkstätten. Das Besondere an Wien war die enge Verbindung von Künstlern zu Handwerkern und Manufakturen; die Idee, gute, stabile und schöne Möbel preiswert für viele herzustellen. Das reicht bis zu der Erfindung des Thonet-Stuhls zurück. Michael Thonet entwickelte in Boppard Mitte des 19. Jahrhunderts ein Verfahren, durch das sich Holz biegen ließ. Mit der Übersiedlung nach Wien bauten er und seine Söhne die Herstellung seriell aus. Vom 1859 entwickelten berühmten Stuhl Nr. 14 sollen bis 1930 über 50 Millionen Exemplare verkauft worden sein. Er war elegant und praktisch zugleich, ließ sich leicht verschicken und zusammenbauen.
Vom rheinischen Boppard nach Wien und von dort in die Welt.
Um 1900 begannen viele Firmen wie Thonet oder auch Jacob & Josef Kohn mit den besten Künstlern und Architekten, der konkurrierenden Gruppe um Loos, Hoffmann und Moser zusammenzuarbeiten, um gute und formschöne Möbel zu designen. In dem engen Zusammenwirken von industrieller Fertigung und künstlerischer Gestaltung ist entstanden, was wir heute das moderne Produktdesign nennen. Massenproduktion, aber für ein schönes Möbelstück. Leistbar für alle. Die sogenannten Wiener Stühle reüssierten zunächst weltweit in Restaurants, Kaffeehäusern und Theatern. Damit wurden sie auch für zu Hause salonfähig.
Und die Wiener Werkstätten?
Die waren dann maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich Wiener Design als moderne Marke positionieren konnte. Unter der Dachmarke Wiener Werkstätten haben sich Designer, Handwerker, Tischler und kleine Manufakturen zusammengeschlossen. Das war einzigartig und gab es so noch nicht.
Haben die alle an einem Ort produziert?
Nein, an vielen verschiedenen. Aber unter einem Verbund und einem gemeinsamen Label, das für hohe Qualitätsstandards und gutes Design stand. Sie entwarfen und produzierten alles von Teppichen über Keramik, Stoffe, Papierwaren und Schmuck bis hin zu Lampen und Möbeln. In Wien war man wiederum von der Arts-and-Crafts-Bewegung aus England beeinflusst.
Wie passte der Wille zu einem individuell und künstlerisch interessierten Alltagsleben zum Kollektivgedanken der Arbeiterbewegung im „roten Wien“?
In Wien hat sich nach Ende des Ersten Weltkriegs vieles verändert. Loos und Hoffmann gestalteten ihre Häuser und Einrichtungen vor dem Krieg sehr luxuriös. Danach wurde neben Hoffmann und Loos eine jüngere Generation aktiv, darunter auch die ersten Frauen. Architekten wie dem 1885 geborenen Josef Frank oder Oskar Strnad ging es nicht mehr um den Bau von luxuriösen Einzelhäusern oder Villen. Leistbarer Wohnraum für alle war das Thema. In Wien gab es eine massive Wohnungsnot. Man musste mit wenigen Ressourcen viel schaffen. Frank entwarf leichte, bunt lackierte, ergonomisch geformte Möbel aus Holz für kleine Wohnräume. Friedl Dicker und Franz Singer gehörten zu den ersten Designer:innen, die klappbare, stapelbare und multifunktionale Möbel gestalteteten.
Parallel dazu gab es in der Weimarer Republik das Bauhaus. In Deutschland entstand die „Frankfurter Küche“, der Prototyp einer modernen Einbauküche.
Die Frankfurter Küche wurde aber auch von einer Wienerin, Margarete Schütte-Lihotzky, entworfen. Lihotzky war eine Schülerin von Josef Frank. Sie hat in Wien an der Angewandten studiert. Neben Ella Briggs oder Liane Zimbler gehörte sie zu den ersten weiblichen Architektinnen Österreichs. Es waren eher Frauen, die sich überlegten, wie sich Berufs- und Familienleben architektonisch besser vereinbaren ließen.
Wie hoch war der Anteil von Frauen an der Wiener Architektur- und Designbewegung?
Es war zunächst wie überall auf der Welt: Erst nach dem Ersten Weltkrieg waren die Unis auch für Frauen zugänglich. Nur an der Kunstgewerbeschule in Wien durften Frauen schon wesentlich früher studieren: seit der Gründung 1868. An der Technischen Universität, wo im klassischen Sinne Architekt:innen ausgebildet wurden, war das erst ab 1919 der Fall, an der Akademie der bildenden Künste ab 1920. Aber besonders an der Angewandten studierten sehr viele Frauen. Viele der arrivierten Männer belächelten sie.
Aus welchen Milieus kamen diese Frauen?
Aus dem modernen Bürgertum, darunter viele jüdische Frauen. Ella Briggs, Liane Zimbler, Friedl Dicker, Lisl Scheu Close oder Dora Gad waren Jüdinnen. Die ersten dort ausgebildeten Architektinnen hatten es nicht leicht. Deswegen haben sich so viele mit Möbeldesign beschäftigt und eher nach innen gearbeitet. Ella Briggs und Margarete Schütte-Lihotzky waren die zwei einzigen Frauen, die als Architektinnen für das „rote Wien“ große Aufträge für Gemeindebauten bekamen. Sie konzipierten kleine, platzsparende Wohnungen, in denen Möbel als Einbauten fest integriert waren. Multifunktionale Räume, irrsinnig gut durchdacht.
Neben dem Überblick zu der modernen Wiener Design- und Architekturgeschichte haben Sie den vergessenen Gestalter:innen biografische Kapitel gewidmet. Darunter auch Friedl Dicker und Franz Singer. Für das Buchcover verwendeten Sie deren Zeichnung „Entwurf eines Gartenzimmers“. Warum ausgerechnet diese?
Mich fasziniert die Ateliergemeinschaft Friedl Dicker und Franz Singer besonders. Friedl Dicker war nach Ausbildungen in Wien mit 21 Jahren ans Bauhaus nach Weimar gegangen. Sie wurde dort zu einer Lieblingsschülerin von Walter Gropius. Zurück in Wien betrieben sie ihre Ateliergemeinschaft und gaben dem Bauhaus eine speziell wienerische Note.
Was wurde aus Friedl Dicker und Franz Singer?
Franz Singer überlebte die Schoah in London, er kehrte nie wieder nach Wien zurück wie auch alle anderen Mitarbeiter:innen der Ateliergemeinschaft. Friedl Dicker wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Sie wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Dort hat sie Kindern Zeichen- und Theaterkurse gegeben. Einer ihrer Schüler:innen versteckte 4.500 Kinderzeichnungen in einem Koffer. Heute sind sie im Jüdischen Museum in Prag. Friedl Dicker war auch Kunstpädagogin und hat versucht, das Leben der Kinder durch Kunst etwas erträglicher zu gestalten. Heute kennt man Friedl Dicker nur noch in Fachkreisen. Vielleicht ändert sich das jetzt. Ende November eröffnet im Wien Museum eine Ausstellung zu ihr und dem Atelier.
Durch die Flucht verstreuten sich die Ideen der Wiener Design-Avantgarde in die ganze Welt. Wie ging es nach 1945 weiter?
Viele der aus Wien vertriebenen jüdischen Designer:innen wurden in Amerika, England oder Schweden sehr erfolgreich und führten die Ideen aus Wien fort. Wie etwa Liane Zimbler in Los Angeles. Ernst Lichtblau oder Walter Sobotka unterrichteten Design und Architektur an US-amerikanischen Universitäten und bildeten die nächste Generation aus. Bruno Pollak wurde zu einem sehr gefragten Möbeldesigner Großbritanniens, Martin Eisler Argentiniens und Brasiliens, Dora Gad zu einer der gefragtesten Designer:innen Israels. Aber kaum jemand kam nach 1945 zurück nach Wien. Es wurden ihnen auch keine Angebote gemacht. Das Wien, das sie kannten, gab es auch nicht mehr. Im Nachlass von Liane Zimbler finden sich Notizen, die zeigen, wie sehr sie darunter litt, dass das offizielle Österreich sie nie kontaktiert oder eingeladen hat. Sie war sehr erfolgreich, wurde 95 Jahre alt. Aus Österreich kam nichts. 1987 starb sie in Los Angeles. Auch Josef Frank fühlte sich, so seine ehemalige Schülerin und langjährige Weggefährtin Margarete Schütte-Lihotzky, zutiefst verletzt von allem, was geschehen war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind