Grüner Europa-Spitzenkandidat Giegold: Der Protestant
In sechs Jahren vom Neumitglied zum Spitzenkandidaten. Eine Blitzkarriere mit besonderer Logik: Sven Giegold meint es eben ernst.
NEUSTADT/NEUWIED taz | Der Antikhändler Peter Eidel, Spitzname Billy, erinnert sich noch gut. Dieser junge Mieter war so ungewöhnlich genau, ordentlich und zuverlässig – jedenfalls für einen Anarchisten. „Regelrecht spießbürgerlich!“ Die Erinnerung amüsiert Eidel, schließlich waren seine Mieter damals junge Leute aus der Anarchoszene, sie wohnten in einem Fachwerkhaus hinter dem Neustädter Marktplatz. „Wenn der Sven die WG-Telefonrechnung machte, stimmte sie immer bis auf den letzten Pfennig.“ Das hatte Seltenheitswert.
Gut zwanzig Jahre später wirbt ein grün gefasstes Wahlplakat im staubigen Fenster von Eidels Antikladen für den Exmieter: Sven Giegold, 44 Jahre, das Haar inzwischen leicht ergraut. Seit fünf Jahren durchpflügt er als Abgeordneter die europäischen Finanzen. Im Februar zog Giegold sogar am Chef der Europa-Grünen vorbei, wurde statt Reinhard Bütikofer auf Platz zwei der Grünen-Europaliste gewählt.
Die Kirchenglocke schlägt 17 Uhr. Der Spitzenkandidat eilt zur Bürgersprechstunde auf den Marktplatz, Sakko über brauner Kapuzenjacke und wie immer den schwarzen Nylon-Rucksack auf dem Rücken. Die Neustädter Wahlkämpfer haben eine Gartenbank für ihn aufgestellt. Eine Fotografin der Rheinpfalz wartet schon. Giegold fährt sich hastig mit dem Kamm durchs Haar und posiert mit Plüschschnabeltier für die Kamera. Ein Regional-Maskottchen, Gattung Elwetritsche. Habe er gerade gekauft, sagt Giegold. Er sammle Stofftiere. Seit der Eurokrise gehörten sogar zwei Pleitegeier zu seiner Kollektion.
Eine Schwäche für Exceltabellen und Diagramme? Vielleicht. Aber eine Kuscheltiersammlung bei Sven Giegold daheim, da versagt die Fantasie. Giegold ist ein Mann, so ernsthaft, dass seine Aschermittwochsrede zur Hochschulvorlesung getaugt hätte. Nonsens-Fragen der „heute-show“ zum Trennbankensystem pariert er mit der Sachlichkeit eines Schalterbeamten: „Herr Giegold“, ranzt ihn der Komiker Carsten van Ryssen schließlich an, „haben Sie schlechte Laune heute?“ Tonlose Antwort: „Es ist so, wie es ist.“
Geteilte Aufmerksamkeit
Nicht mal das sonderbare Schnabeltier lockt an diesem Mittwochnachmittag die Passanten an. Ein Regenschauer hat den Marktplatz von Neustadt an der Pfälzer Weinstraße geleert, auf der Gartenbank stehen jetzt kleine Pfützen. Dieser Europawahlkampf ist für die Grünen ein besonders zähes Geschäft. Die Frage „Schulz oder Juncker?“ dominiert den Endspurt. Und dann teilt das deutsche Spitzenduo – Rebecca Harms und Sven Giegold – die Aufmerksamkeit auch noch mit den EU-Spitzenkandidaten Ska Keller und José Bové.
Auf dem Markt in Neustadt hören Giegold nur die eigenen Leute zu. Angesichts der „allgemeinen Grummel- und Nörgelstimmung“ müsse man jetzt den „europäischen Grundkonsens“ verteidigen, sagt er. Kurzer Schwenk zu TTIP, dem transatlantischen Handelsabkommen, gegen das er Wahlkampf macht – dann reicht Giegold ein Klemmbrett herum.
Der Spitzenkandidat sammelt Adressen für seinen E-Mail-Verteiler, so wie früher bei Attac. Giegold hat die globalisierungskritische Bewegung im Jahr 2000 in Deutschland mit gegründet, sieben Jahre in der sozialen Bewegung prägen ihn bis heute. Weil ihm das Budget für den Europawahlkampf zu karg schien, warb Giegold kurzerhand selbst per Rundmail Spenden ein. Dazu retweeten und liken Social-Media-Helfer seine Botschaften – ein bisschen wie bei Obama.
Interview mit der „Sparkassen-Zeitung“
Als die Grünen den Attac-Aktivisten vor sechs Jahren baten, für sie nach Brüssel zu gehen, galt Giegold längst als Kapazität. Grünen-Legende Daniel Cohn-Bendit hatte ihn schon 2002 – halb im Spaß – zum „künftigen Finanzminister“ erklärt. Nun war der perfekte Moment für den Seitenwechsel gekommen. Giegold trat in die Partei ein und machte eine Blitzkarriere.
In der Eurokrise wurden Ideen wie die Finanztransaktionssteuer heiß gehandelt, für die er sich zehn Jahre zuvor – auch von Grünen – noch hatte belächeln lassen. Als Grünen-Koordinator im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments stritt Giegold für Reformen zur Regulierung der Finanzmärkte, handelte federführend die Bankenunion mit aus. Bei Brüssel-Korrespondenten genoss der Wirtschaftswissenschaftler bald den Ruf, die Eurokrise korrekt und verständlich erklären zu können. Als Giegold „Finance Watch“ mitgründete, eine Gegenlobby zu den Banken, war das auch der Sparkassen-Zeitung ein Interview wert.
Unter den eigenen Leuten wirkt Giegold allerdings zuweilen etwas aus der Zeit gefallen. Die Grünen schlagen sich immer noch mit ihrem „Veggie Day“-Trauma aus der Bundestagswahlkampagne herum. Namhafte Strategen wollen nie wieder Bessermenschen-Verdacht erwecken. Wenn beim Pressegespräch in Berlin nur eine fleischlose Gemüsepfanne auf den Tisch kommt, gilt das als Panne.
Pragmatisch, aber verbissen
Giegold hingegen serviert bei politischen Tischgesprächen grundsätzlich Veganes. Die „Freiheits“-Debatte in seiner Partei findet er unausgegoren. Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen seien Grenzen der individuellen Freiheit nötig: „Wenn man das ernst nimmt, folgen daraus Konsequenzen für das eigene Leben.“ Wie bei ihm.
Weggefährten nennen Giegold intelligent, pragmatisch und zielstrebig. Sie nennen ihn aber auch verbissen, penibel und spartanisch. Ein Grüner, neben dem man sich schnell gewissenlos fühlt mit dem Girokonto bei der falschen Bank, dem Cappuccino im Pappbecher und einem Flugticket nach Istanbul in der Schublade. Noch bei Attac, mied Sven Giegold Auto und Flugzeug. Den Führerschein machte er nie.
Als Neon ihn 2003 zum „wichtigsten jungen Deutschen“ kürte, bekam die Redaktion seine Sturheit zu spüren. Giegold habe sich nicht gegen das Fotoshooting gesperrt, erinnert sich ein Redakteur. Trotzdem wäre er fast nicht aufs Bild gekommen: Er weigerte sich, das Flugzeug zu nehmen, zuckelte lieber mit dem Zug.
Tischgebet vorm Essen
Solche Ansprüche kann Giegold als Spitzenkandidat nicht mehr durchhalten. Von dem Ökohof, den er mit Freunden im niedersächsischen Verden kurz vor Bremen aufgebaut hatte, ist Giegold weggezogen, lebt jetzt mit Frau und Kind in Düsseldorf, sein nordrhein-westfälischer Landesverband braucht ihn dort. Giegold tourt im schwarz-grünen Wahlkampf-Van durch die Republik, 70 Städte in einem Monat. Wahlbilanz schlägt Ökobilanz. So einfach ist das – und doch wieder nicht. Während andere Spitzen-Grüne am Handy vergnügt erwähnen, sie säßen gerade im Taxi zum Flughafen, klagt Giegold über die „viel zu vielen“ Kilometer mit dem Auto.
Sven Giegold ist Protestant, nicht nur auf dem Steuerbescheid. Bei ihm zu Hause werde vor dem Essen gebetet, erzählt er. Bei einem Zwischenstopp in Neuwied am Rhein besucht er das Grab seiner Schwiegeroma, lässt sich durch die Freikirche führen. „Glaube und gesellschaftliche Verantwortung gehören für mich zusammen“, sagt er später vor elf Leuten im Gemeindesaal. „Das eine ist ohne das andere nicht vorstellbar.“ Am Ende wandert wieder das Klemmbrett für seine Adressensammlung herum.
Manchmal klingt es, als vermisse Giegold sein altes Leben. Parteipolitik sei ein „liebloses Geschäft“, sagt er. Solidarität, Zusammenhalt, Loyalität – all das habe er an den sozialen Bewegungen geschätzt. Nun habe er mehr mit Opportunisten zu tun, „bei denen ich nicht mehr richtig erkenne, was eigentlich ihr politisches Ideal ist“. Stattdessen würden Machträume verteidigt. „Was in Berlin stattfindet, befremdet mich.“ Etwa die Durchstechereien an die Presse nach den Grünen-Parteiratssitzungen: „Unerträglich“, sagt er.
Kontrolliert und faktenbetont
Giegold kann seine Empörung dosieren. An diesem Maiabend diskutieren vier Politiker im Hambacher Schloss über „Europa zwischen Traum und Trauma“. Neben dem Grünen Bernd Lucke, Ökonomieprofessor, Gründer und Spitzenkandidat der Alternative für Deutschland. Die Atmosphäre ist geladen. Luckes Fanclub schleudert Anfeindungen nach vorn: „RTL-Fuzzi!“ „Traumtänzer!“
Giegold steigt nicht darauf ein. Er argumentiert so kontrolliert und faktenbetont wie sein Kontrahent. „Es ist nicht alles gut mit der Demokratie in Europa, sie ist aber viel besser als ihr Ruf und das Europaparlament viel einflussreicher, als die meisten Bürger denken.“ Nach einer Stunde aber rutscht Giegold doch noch eine Belehrung heraus. Der AfD-Chef hat sich aus einer Erzählung Heinrich Bölls bedient. Luckes Botschaft: der Italiener liege halt lieber in der Sonne, als zu arbeiten. Solche „Mentalitätsfragen“ könne man sich nicht „wegwünschen“. Giegold greift an: „Diese nationalen Zuschreibungen überwinden Sie spätestens, wenn Sie in Europa auch mit dem Herzen angekommen sind!“
Auf dem Weg nach draußen baut sich ein Herr im Nadelstreifenanzug vor ihm auf. „Sie haben sich sehr gut geschlagen!“ Ihm habe gefallen, dass Giegold nicht arrogant aufgetreten sei und kritische Fragen ernsthaft beantwortet habe. Skeptische Blicke. „Wer sind Sie?“, fragt Giegold. Der kleine Herr antwortet: stellvertretender Kreisvorsitzender der AfD. Zum ersten Mal an diesem Wahlkampftag verschlägt es Giegold die Sprache. Dann holt er zu einer mehrminütigen Lektion über die volkswirtschaftlichen Irrtümer der AfD aus, die in einen abrupten Abschied mündet: „Ich wünsche Ihnen politischen Misserfolg, aber menschlich alles Gute“, sagt Giegold. Der AfDler schaut ihn beeindruckt an. „Das wünsche ich Ihnen auch!“
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