Grünen-Politikerin über Frauengesundheit: „Als hätten Frauen keine Nieren“
Das Gesundheitssystem müsse geschlechtergerecht werden, sagt Kirsten Kappert-Gonther. Die Medizinerin und Abgeordnete will Frauengesundheit fördern.
taz: Frau Kappert-Gonther, zeigt sich an Covid-19, dass Geschlecht eine Rolle in Fragen von Krankheit und Gesundheit spielt?
Kirsten Kappert-Gonther: Männer haben in der Regel einen schwereren Verlauf von Covid-19 als Frauen, aber mehr Frauen erkranken. Zwar scheinen Alter und männliches Geschlecht oder Sozialisierung also ein Risikofaktor zu sein – aber weil Frauen in den risikoreichen Berufen wie Pflege und Einzelhandel arbeiten, sind sie stärker betroffen.
Die Hirnvenenthrombosen, die nach der Impfung mit AstraZeneca auftraten, betreffen zudem vor allem Frauen zwischen 30 und 50 Jahren.
Ja, und viele junge Frauen lassen sich nicht nur zum Eigenschutz, sondern auch aus Solidarität impfen. Nicht jede sehr seltene Nebenwirkung kann durch Studien präzise abgebildet werden. Aber nur knapp 17 Prozent der registrierten klinischen Studien zu Prävention und Therapie von Covid-19 gehen auf Geschlecht als Kriterium überhaupt ein. Es wäre ganz offensichtlich dringend nötig, das umfassend zu tun und zu fragen: Wen betrifft was?
Um geschlechtsspezifisch reagieren zu können?
Inzwischen wurde die Impfempfehlung zu Recht geändert. Da die Thrombosen nach der Impfung mit AstraZeneca zwar sehr selten, aber dann bei Personen unter 60 und hier vor allem bei Frauen auftreten, wird der Impfstoff nun für die Über-60-Jährigen empfohlen. Das zeigt, wie wichtig es ist, solche Daten genau zu erfassen.
Jenseits von Covid-19 aber werden Frauen in der zweiten Zyklushälfte sogar gelegentlich aus klinischen Studien herausgenommen – weil die Hormonschwankungen innerhalb des Zyklus die Ergebnisse verfälschen. Nun nehmen Frauen aber nun mal auch während ihrer zweiten Zyklushälfte Medikamente ein.
Tausende von Arzneimitteln wurden vor der Zulassung außerdem gar nicht an Frauen getestet. Sie werden weiter benutzt, und es gibt für sie keine geschlechtsspezifische Verschreibungsempfehlung. Da sagt uns schon der gesunde Menschenverstand, dass diese einseitige Forschung Frauen schaden kann.
Sie fordern mit der grünen Fraktion im Bundestag nun geschlechtersensible Qualitätsstandards im Gesundheitswesen. Was heißt das?
54, ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2017 sitzt sie für die Grünen im Bundestag.
Geschlechtersensibilität ist die Grundlage für eine gute Gesundheitsforschung-, -lehre und -versorgung. All das geht derzeit in der Regel von einem männlichen Normkörper aus. Andere Körper werden als Abweichung betrachtet. In den Anatomieatlanten sind überproportional viele Männer abgebildet – und Frauen fast nur da, wo es um Uterus und Brüste geht, als hätten sie keine Leber oder Nieren.
Welche Auswirkungen hat das?
Bei der Entwicklung von künstlichen Knien oder Hüften heißt das zum Beispiel, dass Frauen Gefahr laufen, dass ihnen die Prothesen nicht gut passen. Wenn Frauen einen Herzinfarkt haben, sterben sie daran häufiger als Männer – weil sie andere Symptome haben und die Infarkte deshalb entweder zu spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Dann heißt es, das seien untypische Symptome, aber das stimmt nicht. Das sind typische Symptome für Frauen.
Sie schreiben, dass Frauen im reproduktiven Alter besonders betroffen seien. Inwiefern?
In den Versorgungsbereichen, die speziell Frauen angehen, gibt es eklatante Lücken. Die Kassen übernehmen zum Beispiel Kosten für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel nur für Versicherte bis zum vollendeten 22. Lebensjahr – und das, obwohl Frauen mit geringem Einkommen aus Kostengründen unregelmäßiger oder gar nicht verhüten.
Wir brauchen zudem einen Kulturwandel in der Geburtshilfe, der Mutter und Kind in den Mittelpunkt stellt. Wir haben viel zu wenige Hebammen. Und noch immer werden Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert, was dazu führt, dass es an Ärztinnen und Ärzten fehlt und der Zugang zu medizinisch sicheren Abbrüchen nicht mehr gesichert ist. Das ist nicht hinnehmbar.
Woran liegt es, dass das Gesundheitssystem so einseitig organisiert ist?
Die wesentlichen Entscheidungen werden auch in diesem Bereich noch immer überwiegend von Männern getroffen: in den Krankenkassen, in den Vorständen der kassenärztlichen Vereinigungen, in den Ärztekammern. Obwohl zum Beispiel in den Kassen überwiegend Frauen arbeiten, bildet sich das in den Vorständen nicht ab. Strukturell wird die Kompetenz von Frauen nicht annähernd ausgeschöpft – uns fehlt die vollständige Wahrnehmung.
Der Effekt ist, dass es vor allem in den für Frauen spezifisch relevanten Bereichen wie der Geburtshilfe blinde Flecken im System gibt. Auch die Pflege, in der überwiegend Frauen arbeiten, wurde lange nicht gehört.
Das hat sich mit der Pandemie zwar geändert, die Bedingungen aber wurden seitdem kaum verbessert.
Es wird zumindest endlich anerkannt, welch essenzieller Bereich der Versorgung die Pflege ist. Jetzt müssen konkrete Verbesserungen geschaffen werden. Wir brauchen genügend Pflegende pro Patient und Patientin, wir brauchen einen allgemein gültigen Tarifvertrag, und wir müssen die professionelle Selbstverwaltung der Pflegenden verbessern.
Was heißt das?
Im zentralen Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, das die relevanten Entscheidungen trifft – dem Gemeinsamen Bundesausschuss –, ist die Pflege nicht mit Stimmrecht vertreten. Das darf so nicht bleiben.
Wie wollen Sie das ändern?
Über Quoten und Parität. Der Blickwinkel von Frauen muss in die Entscheidungen eingespeist werden.
Sie werden auf Widerstand stoßen. Wie wollen Sie die männlichen Entscheidungsträger mitnehmen?
Dass es dieses eklatante Missverhältnis gibt zwischen Frauen, die in den Berufen arbeiten, und Männern, die über sie entscheiden, hat mittlerweile viele zum Nachdenken gebracht. Bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss haben nahezu alle Teilnehmenden anerkannt, dass es keinen Sinn hat, Erfahrungen, Blickwinkel und Kompetenzen von Frauen systematisch auszugrenzen.
Die männlichen Entscheider wollen die Quote?
An der Frage, ob es freiwillig passiert, dass mehr Frauen in die Gremien kommen, scheiden sich natürlich die Geister. Aber da brauchen wir nur auf die Erfahrungswerte zu schauen: Freiwilligkeit reicht nicht.
Eine Quote wird schwer durchsetzbar sein, aber zumindest nichts kosten. Andere Bereiche in diesem Antrag schon. Wie soll das alles finanziert werden?
Kosten entstehen auch bei Fehlversorgung. Geschlecht als Kategorie in Studien zu erheben und auszuwerten, kostet nicht extra. Verbesserungen in der Geburtshilfe und Pflege natürlich schon – aber das sind elementare Notwendigkeiten. Ohnehin wäre es absurd zu sagen, wir wollen dabei bleiben, dass Frauen schlechter gesundheitlich versorgt werden.
Sie bringen den Antrag jetzt, also gegen Ende der Legislatur, ein. Wer sollte den in der nächsten mittragen? Die Union in einer schwarz-grünen Regierung nicht, oder?
Alle demokratischen Fraktionen erkennen, dass sich Geschlechtergerechtigkeit im Gesundheitswesen auf Dauer durchsetzen muss. Frauen schauen bei ihrer Wahlentscheidung sehr genau auf diese Fragen.
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