Grüne uneinig, aber harmonisch: Für und gegen Waffenlieferungen
Über dem Grünen-Parteitag von Stuttgart schwebt Sehnsucht nach Harmonie. Der Streit über Waffenlieferungen bleibt unentschieden.
HAMBURG taz | Um die Mittagszeit beseitigt der Grünen-Geschäftsführer die letzten Gewissheiten. „Ihr Lieben“, ruft Michael Kellner in den Saal, „Ihr überrascht uns immer wieder mit eurer Weisheit.“ Gerade haben die Delegierten zum zweiten Mal über einen außenpolitischen Leitsatz abgestimmt: „Waffenlieferungen in Krisenregionen lehnen wir ab.“ Noch vor einigen Monaten hätte sich vermutlich eine klare Mehrheit dafür ausgesprochen. Doch die Terrorspur der IS im Irak und in Syrien erschüttert auch Grüne in ihren Grundsätzen.
Die Auszählung ergibt ein entschiedenes Jein: 313 Delegierte votieren gegen Waffenlieferungen, 299 wollen den Satz so nicht mehr unterschreiben. Doch der Antrag benötigt eine absolute Stimmenmehrheit, um beschlossen zu sein. Die hat er knapp verfehlt.
Dem Bundesgeschäftsführer gelingt das Kunststück, aus dem Abstimmungs-Kuddelmuddel spontan sogar eine gute Nachricht zu kondensieren: „Das klare Signal dieser Abstimmung ist: Wir haben auf schwierige Fragen keine einfachen Antworten.“ Um beiden Seiten gerecht zu werden, solle der Satz nun in einer Fußnote zum Leitantrag untergebracht werden. Ein Raunen geht durch die Halle.
Drei Stunden haben die Grünen leidenschaftlich um eine Position in der Außenpolitik gerungen. Parteichef Cem Özdemir warb um Verständnis für seinen Alleingang der vergangenen Monate: Während die Mehrheit der Bundestagsfraktion im September gegen Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga stimmte, plädierte der Parteichef öffentlich dafür. Seine Warnung, man könne den IS „nicht mit der Yoga-Matte“ besiegen, empörte auch hartgesottene Realos. In Hamburg nun gibt der Vorsitzende sich versöhnlich, dankt für die gute „Diskussionskultur“ seiner Partei. Die Yoga-Matte bleibt eingerollt.
Jesiden bitten um Waffen - Standing Ovations
Stattdessen appelliert Sahab Dag vom Zentralrat der Jesiden an das Gewissen der Grünen. Er berichtet von Gräueltaten des IS an jesidischen Kindern. „Wir alle wollen leben“, sagt Dag. „Wir alle bitten inständig um Hilfe.“ Und er meint damit auch: Waffen. Wer Waffenlieferungen ablehne, müsse stattdessen eigene Truppen in die Krisenregion schicken. Nach seiner Rede erheben sich viele Delegierte respektvoll von den Sitzen.
Die Grünen wollen sich künftig verstärkt für einen radikalen Umbau der Landwirtschaft einsetzen: "Es geht ums Ganze: Um die Ernährung aller Menschen mit guten Lebensmitteln und um globale Gerechtigkeit, um Klimaschutz und Artenvielfalt", heißt es in einem Antrag, den die Parteitagsdelegierten am Samstag verabschiedet haben.
In dem Antrag fordern sie unter anderem das Verbot genetisch veränderter Pflanzen ebenso wie die drastische Einschränkung der Gabe von Antibiotika in der Tiermast und der Pestizide auf den Äckern.
Außerdem geht es gegen Massentierhaltung und für besseren Tierschutz: etwa durch Verbot des Schnabelkürzens bei Geflügel oder Amputation von Schwänzen bei Schweinen.
Die Grünen lehnen auch die geplanten Freihandelsabkommen TTIP und Ceta mit den USA und Kanada ab, weil sie Lebensmittel- und Umweltstandards auszuhöhlen drohen. (dpa, rtr)
Selbst die Sprecherin der traditionell linken Grünen Jugend, Theresa Kalmer, unterstützt das Plädoyer des Jesiden-Vertreters. Auch Militär sei nötig, um einen Völkermord abzuwenden, sagt sie. Sogar die UN-Vertreter im Nordirak plädierten schließlich für eine weitere Bewaffnung der Kurden. Das, sagt sie, sei die „unbequeme Wahrheit“.
Doch auch die Gegenseite wartet mit unschönen Tatsachen auf. Die Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger etwa warnt davor, dass Waffen am Ende wieder bei den Falschen landen. Schließlich führten die IS-Mörderbanden ihren Krieg auch mit westlichem Kriegsgerät. Schließlich tritt die frühere Parteichefin Claudia Roth ans Mikro. „Humanitäres Engagement darf nicht als Yoga-Matte und Nichtstun diskreditiert werden“, ruft sie.
Die Forderung nach Waffen möge ein „Hilfeschrei“ sein und die „Gewissen beruhigen“ – aber „eine Lösung ist sie nicht“. Die Grünen müssten die „Stimme der Glaubwürdigkeit“ bleiben gegen den „Tabubruch“ der Bundesregierung. „Bravo!“, skandiert jemand im Saal. Und wieder erheben sich viele Delegierte klatschend von den Stühlen.
Leitantrag mit widersprüchlichen Positionen
Der am Ende beschlossene 20-seitige Leitantrag versucht, selbst widersprüchlichste Haltungen zu versöhnen. So heißt es: Der Vormarsch der IS könne „nicht ohne militärisches Eingreifen gestoppt werden“.
Im Falle eines UN-Mandats schließen die Grünen eine „deutsche Beteiligung“ nicht aus. Zugleich begrüßen sie, „dass sich die große Mehrheit der grünen Bundestagsfraktion gegen die Pläne der Bundesregierung Waffen zu liefern entschieden hat“ – man „respektiere“ aber „auch die Gewissensfreiheit der Abgeordneten, die zu einer anderen Einschätzung gelangt sind“. Das ist ein ausdrückliches Zugeständnis an Parteichef Özdemir.
Der zeigt sich freudig überrascht vom Stimmungsumschwung in seiner Partei. In der Bundestagsfraktion sei er mit seinem Plädoyer für Waffenlieferungen vor zwei Monaten noch der Außenseiter gewesen – nun aber zeige sich, „dass die Mehrheitsverhältnisse andere sind“. Das allein, sagt Özdemir, sei doch „eine kleine Sensation“. Selbst wenn seine Position am Ende keine Mehrheit bekam.
Überhaupt wirken führende Realos bester Dinge in Hamburg. Zwar streiten die Delegierten noch einmal heftig, ob Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit seinem Ja zum Asylkompromiss der Großen Koalition eine „rote Linie“ überschritten hat. Aber die befürchtete heftige Abrechnung mit dem Oberrealo fällt aus.
So viel Eintracht! Peter springt Kretschmann bei
Als Nachwuchs-Grüne während der Rede von Kretschmann mit Protestplakaten aufmarschieren, stellt sich Parteichefin Simone Peter sogar symbolträchtig hinter ihren Gegenspieler. Dabei fand sie sein Ja zum Asylkompromiss der Großen Koalition vor zwei Monaten eigentlich grundfalsch. Es ist ein fast kitschig-schönes Bild: Die Grünen, die nach dem Eklat um Kretschmann völlig außer sich wirkten, stehen wieder zusammen.
Länder gegen Bund, Linke gegen Realos, Exvorsitzende gegen amtierende Landeschefs, jeder gegen jeden? Das soll jetzt Vergangenheit sein. Wie weit wird diese Parteitagsharmonie halten? Ab Freitag erwarten die Grünen im Bundesrat neue heikle Entscheidungen: Asylbewerberleistungsgesetz, EU-Freizügigkeitsgesetz, Einschnitte im Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge. In Hamburg hat die Partei diesen „Großangriff auf die Flüchtlingsrechte“ klar abgelehnt.
Die Länder aber verhandeln längst über neue Kompromisse. Nur so viel ist klar: Die reine grüne Lehre werden sie nicht widerspiegeln.
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