Grüne gewinnen erstmals Direktmandate: Stich in die rote Herzkammer
Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein gewann die CDU am Sonntag fast alle Wahlkreise. Die SPD verlor sogar ihre Hochburgen in Kiel und Lübeck.
Aber dass auch die Landesparteichefin Serpil Midyatlı im Wahlkreis Kiel-Ost verliert – das ist ein herber Schlag für die SPD und Midyatlı persönlich. Der Blick auf die früheren SPD-Hochburgen zeigt das Desaster der Sozialdemokrat*innen in Schleswig-Holstein und die neue Wirklichkeit im Land. Die ist Schwarz-Grün.
Die Schleswig-Holstein-Karte, die das Statistische Landesamt am Tag nach der Wahl auf seiner Homepage veröffentlichte, sieht düster aus. Das liegt daran, dass fast alle der landesweit 35 Wahlkreise schwarz gefärbt sind. Hier hat die CDU direkt gewonnen – so wie die Partei es sich als Ziel gesetzt hatte. In einigen ländlichen Regionen, besonders an der Westküste, erreicht die CDU bei den Zweitstimmen die 50-Prozent-Marke.
Nur drei kleine grüne Flecken tauchen auf der Karte auf, sie markieren die Regionen, in denen die Grünen sich direkt gegen die CDU durchsetzen konnten. Generell haben die Grünen landesweit an Stimmen gewonnen – auch in CDU-Hochburgen. So stimmten im Wahlkreis Eckernförde 58 Prozent für Daniel Günther direkt, aber nur 39,6 Prozent, also weniger als im Landesschnitt, für seine CDU. Dafür wurden dort die Grünen mit knapp 20 Prozent zweitstärkste Kraft.
Die Grünen ziehen an der SPD vorbei
SPD-Rot gibt es auf der Karte des Statistikamtes gar nicht. Dabei hatte die SPD noch bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst die CDU weit abgeschlagen und die Mehrheit der Wahlkreise direkt gewonnen. Darunter war der „Kanzlerwahlkreis“ Pinneberg, der von Einheimischen und Medien als Orakel betrachtet wird: Die Partei, die in Pinneberg gewinnt, stellt den Kanzler – so geschah es im vergangenen Jahr.
Von Feierstimmung war am Sonntag nichts zu spüren, als sich SPD-Mitglieder und Abgeordnete in einem Saal im Obergeschoss des Landeshauses trafen. Nicht einmal in ihren Hochburgen in den größeren Städten wie Kiel, Lübeck und Flensburg lag die Partei vorn, erst recht nicht in den ländlicheren Wahlkreisen. Dafür zogen in zwei Kieler und in einem Lübecker Bezirk die Grünen an allen anderen vorbei.
Lasse Pettersdotter, der bereits dem Landtag angehört, und Anna Langsch, bisher im Kieler Kreisverband und als Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft „Queer SH“ aktiv, siegten in Kiel Nord und West, beide Wahlkreise hatte vor fünf Jahren die SPD gewonnen.
In Lübeck-Süd, eigentlich ebenfalls ein „sicherer“ SPD-Wahlkreis, siegte der Medizinstudent Jasper Balke mit 34 Prozent gegen die CDU-Kandidatin Anette Röttger mit 27 Prozent. Die SPD-Bewerberin landete bei nur 23 Prozent – 2017 hatte hier der Sozialpolitiker Wolfgang Baasch rund 35 Prozent geholt. Verluste für die SPD von über zehn Prozentpunkten sind auch in den anderen städtischen Wahlkreisen zu verzeichnen.
Besonders krass fällt das Ergebnis in Kiel-Ost aus. Denn der Wahlkreis hat eine besondere Bedeutung für die Partei: „Für mich ist das Kieler Ostufer die Herzkammer der Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein“, so Serpil Midyatlı in einem Schreiben an die Genoss*innen, mit dem sie sich 2021 um die Direktkandidatur bewarb. Kiel-Ost mit seinen Fabriken und Werften war ein klassisches Arbeiterviertel, heute leben hier viele Menschen mit Migrationshintergrund – auch Midyatlı selbst wohnte und arbeitete in dem Viertel, in dem früher unter anderem Heide Simonis antrat.
SPD-Wähler wandern weg
Nun ist die Herzkammer schwarz geworden: Die Christdemokratin Seyran Papo, selbstständige Dolmetscherin und erst seit 2020 im Kreisvorstand der Kieler CDU aktiv, holte auf Anhieb 29,4 Prozent der Stimmen. Midyatlı, die als Landesparteichefin und stellvertretende Bundesparteivorsitzende den weitaus größeren Bekanntheitsgrad hat, kam auf 26,2 Prozent.
Bei den Zweitstimmen verlor die SPD hier fast zwölf Prozent, während CDU, Grüne und die Minderheitenpartei SSW zulegten. Insgesamt war die Wahlbeteiligung in diesem Kieler Stadtteil mit rund 49 Prozent noch weit geringer als im ganzen Land.
Landesweit sollen laut Analysen und Befragungen von Infratest Dimap rund 27.000 SPD-Anhänger*innen diesmal nicht gewählt haben. Vor allem aber sorgte die Zufriedenheit mit der amtierenden Koalition dafür, dass diejenigen, die 2017 die SPD gewählt hatten, nun für CDU und Grüne stimmten. Auch der SSW als solide Alternative profitierte und erhielt rund 14.000 Stimmen von früheren SPD-Wähler*innen.
Dazu kam die mangelnde Bekanntheit des SPD-Kandidaten Losse-Müller. Bei der tristen Wahlparty im Landeshaus berichtet ein ehemaliger Landtagsabgeordneter, der immer noch lokalpolitisch aktiv ist, selbst er habe den Bewerber erst vor wenigen Wochen kennengelernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“