Grüne Politik im Alltag: Einer von hier
Kassem Taher Saleh wuchs als irakischer Flüchtling in Sachsen auf. Nun sitzt er für die Grünen im Bundestag und hält engen Kontakt zur alten Heimat.
A n einem Abend im Oktober macht Kassem Taher Saleh einen Ausflug in sein altes Leben. Er beginnt auf dem Sportplatz von Wacker Plauen. Dienstag, 18 Uhr, die Herrenmannschaft trainiert. Es ist dunkel, die Spieler stehen im Flutlicht. Taher Saleh hat sich nicht angekündigt. „Die kennen mich hier alle noch“, sagt er. Sieben Jahre hat er, der Kurde, hier gespielt.
Empfohlener externer Inhalt
„Ey, wo haste deine Fußballschuhe?“, fragt der Erste.
„Was wollen denn die Ausländer wieder hier?“, ruft einer. Fistbumps. „Spaß!“
„Mit euch Grünen können wir uns die Energie nicht leisten. Ihr habt uns die ganze Scheiße eingebrockt“, meint ein anderer. „Spielste am Donnerstag mit?“
„Nee, eher nicht. Termine.“
Kassem Taher Saleh, 29, spielt jetzt Mittelfeld, im FC Bundestag.
2003, er ist zehn, flieht Taher Salehs Familie aus dem Irak nach Plauen im Vogtland, ins Dreiländereck von Sachsen, Thüringen, Bayern. Im Flüchtlingsheim wächst er auf. Wacker Plauen, der Fußballklub ein paar Straßen weiter, ist seine Brücke in die deutsche Gesellschaft.
Mit 20 geht Taher Saleh nach Dresden, studiert Bauingenieurwesen. 2019 tritt er den Grünen bei, 2021 wird er in Dresden in den Bundestag gewählt. Das Vogtland ist einer der beiden Wahlkreise, die er mitbetreuen muss. Dazu schläft er nun manchmal in seinem alten Kinderzimmer, fährt mit dem VW seiner Eltern herum. Die führen ein Lebensmittelgeschäft in der Innenstadt.
Plauen ist kein sonderlich guter Ort für Grüne. Im Bundestagswahlkampf griff ein 50-Jähriger den Grünen-Stand an, verletzte die 19-jährige Kreisvorsitzende Lea-Sophie Gauglitz. Er habe „seinen Unmut äußern“ wollen, sagt die Polizei. Auch die Redner der wöchentlichen Großdemos des rechtsextremen „Forums für Demokratie und Freiheit“ wollen das. Anfang November giftete der Auftaktsprecher über eine „wohlstandsverwahrloste grüne Sekte und ihren rot-gelben Wurmfortsatz, die an die Seelen unserer Kinder und Enkel will“, zum Zwecke „abscheulicher Experimente“. Tausende klatschten begeistert.
In Plauen hat die Nazipartei Dritter Weg ihre Zentrale und unterhält ein Stadtteilzentrum. 2021 klebte sie Plakate mit der Aufschrift: „Hängt die Grünen!“ Gerade eben erst, Anfang November, weigerte sich ein Amtsrichter, deswegen ein Verfahren gegen den Dritten Weg zu eröffnen.
Das also ist die Stadt, in die Taher Saleh alle zwei Monate fährt, um den Leuten zu erklären, dass die Grünen ihre Sache in der Regierung ganz gut machen. Wie schafft man das?
Es hilft, wenn man von hier kommt.
„Es wird schlimmer dargestellt, als es ist“, sagt der Trainer auf dem Fußballplatz über die Energiepreise. „So sieht man mal, wie sehr man im Überfluss lebt und was man einsparen kann.“ Die Solaranlage fürs Vereinsheim ist bestellt. „Früher nach dem Training war eine halbe Stunde das Licht an. Jetzt machen wir es direkt aus, warum nicht, ist doch gut, haben ja auch keinen Bock auf fette Nachzahlung.“
„Ja, schade, dass es einen Krieg braucht dafür“, sagt Taher Saleh. Und später, auf dem Weg zur Pizzeria: „Das hat mich überrascht, dass es hier ein Umdenken gibt.“
Der Schwatz auf dem Fußballplatz ist gewissermaßen das Aufwärmen für einen Termin am nächsten Tag. Wegen dem ist Taher Saleh eigentlich hier. Der Krisenstab der Stadt Reichenbach sieht die Energiepreise nicht so locker wie der Fußballtrainer. In einem offenen Brief an Robert Habeck fordert er „bedingungslose Versorgungssicherheit“ und Verhandlungen mit Russland. Aus der „emotionalen Empörung“ über den russischen Angriff seien Entscheidungen gefällt worden, die mit einer „rationaleren Analyse und Strategie vermeidbar“ gewesen wären, schreiben die Kommunalpolitiker.
„Das wird kein Heimspiel da“, sagt Taher Saleh. „Konservatives Lager.“
Beim Verein, gerade eben, war es ein Heimspiel. Trotz der Sprüche von Spielern. Die habe es früher auch gegeben. „Das ist nicht böse gemeint, ich nehm ihm das nicht übel. Menschlich ist er total okay.“ Früher sei er „nicht so sensibel“ dafür gewesen, sagt Kassem Taher Saleh, „ich hab mitgelacht.“ Heute empfinde er das anders. „Wenn ich dem heute was über Rassismus erzählen würde, der würde sagen ‚Was erzählst du mir, Kassem? Du bist der Ausländer und fertig.‘ “
Respektiert habe er sich trotzdem immer gefühlt. „Wenn man gut spielt, dann wird das honoriert.“ Man müsse in Plauen die „harte Schale knacken, dann sind die Leute absolut loyal“. Wenn bei gegnerischen Klubs Nazis mitgespielt hätten, sei immer Verlass auf seine Mannschaft gewesen. Und so empfinde er „Sachsen gegenüber Dankbarkeit“.
Wofür genau?
„Aufnahme, Loyalität, eine Perspektive, meine Ausbildung.“
Deshalb habe er etwas zurückgeben wollen. Er war Schiedsrichter, später Schülersprecher, hat die Spielberichte für die Vereinswebseite geschrieben. Und ist jetzt eben: Abgeordneter.
Der Bruder des Pizzabäckers hat auch bei Wacker Plauen gespielt. Sein Vater steht heute hinterm Tresen. „Was machst du heute?“, fragt er Taher Saleh.
„Politik. Bin Abgeordneter.“
„Politik? Kommt nix bei raus. Ist scheiße.“
„Meinste?“
„Ja.“
Den Grünen trat Taher Saleh erst 2019 bei, als er mit der Uni fertig war. „Menschenrechte, Minderheiten“, diese Themen waren ihm wichtig. „Ich hab mich selbst als Minderheit gefühlt.“
Kurz danach brach Corona aus. Deshalb bestand seine Parteikarriere zunächst vor allem aus Zoom-Calls. Schon nach einem Jahr geriet er auf die Landesliste. „Natürlich gibt es da Neid. Manche fragen: ‚Warum mache ich das seit Jahren hier, wenn Kassem sofort in den Bundestag kommt?‘ “
Er hat in Plauen ein Büro in der Innenstadt, gemeinsam mit dem grünen Landtagsabgeordneten Gerhard Liebscher. Am Abend trifft er den Ortsverein dort zum ersten Mal persönlich. Es könnte genauso gut ein Treffen in Baden-Württemberg sein: klassisches Grünen-Milieu, weiße Akademiker, leicht ergraut, langjährig engagiert.
Die Kreisvorsitzende, Ulrike, sagt zur Begrüßung: „Man braucht hier gerade ein dickes Fell.“ Durch die aktuelle Lage gerate man bisweilen in Erklärungsnot. „Deswegen ist es gut, dass mal wer von der Regierung hier ist.“
Taher Saleh legt eine Tupperdose mit Nusskeksen auf den Tisch. „Das hat meine Mutter gebacken.“
Dann fängt er an. Habeck mache seine Sache super, Baerbock auch. „Aber wir sind in einer schwierigen Lage und verletzen unsere Werte bei den Themen Verteidigung und Energie. Wir wollen ehrlich kommunizieren, da gehört es dazu, das zu sagen. Gleichzeitig haben wir viele Erfolge. Beim Ausbau der Erneuerbaren zum Beispiel.“
Die Parteileute sehen es ähnlich. Sie nicken.
„Worüber wollen wir reden?“, fragt Taher Saleh. „Menschenrechte, Katar, LNG, das Zukunftszentrum in Plauen?“
Ein Mann, der sich als Dieter vorstellt, will über Habeck sprechen: „Erst war er sehr kommunikativ, jetzt taucht er ab, nach dem Crash mit der Gasumlage. Jetzt sieht er auch körperlich nicht mehr so gut aus. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um ihn.“
Ein anderer sagt, er habe Habeck live auf dem Parteitag gehört. „Schlapp und müde“ sei der „gegenüber der Annalena“ gewesen. „Der Mann ist so in die Ecke gedrängt, der kämpft wie ein Löwe, und dann stellt sich der Lindner hin, als wäre er der nächste Kanzler“, sagt der Mann. „Vielleicht ist der Robert zu defensiv? Wie gut ist sein Backoffice? Hat der da Idioten sitzen?“
Taher Saleh erzählt von der Dreier- und der Sechserrunde der Koalition und davon, wie Habeck übel mitgespielt worden sei mit der Gasumlage: „Die FDP macht immer schon abgesprochene Sachen wieder auf, das ist extrem kraftraubend.“
Jemand fragt, warum Scholz im Hamburger Hafen die Chinesen einsteigen lässt: „Das stinkt doch!“ Taher Saleh hat auch darauf eine Antwort parat. Man müsse „den Sicherheitsbegriff erweitern“ und „auf kritische Infrastruktur fokussieren“.
Das ist eine typische Politformel – aber sie ist nicht falsch. Und wie will man ganz ohne Stanzen durch solche Tage kommen, an denen man alles Mögliche erklären soll, man ist ja schließlich von der Regierung. Über viele Themen haben die Leute hier schon diskutiert, da war Taher Saleh noch gar nicht geboren. Die langjährige politische Sozialisation, die junge Grüne üblicherweise haben, fehlt ihm mit seiner Blitzkarriere. Aber er schlägt sich nicht schlecht. Die Basis ist anscheinend zufrieden mit ihm.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das Asylbewerberheim, in dem Taher Saleh seine Jugend verbrachte, liegt in einer alten Kaserne im Westen Plauens. Fünf Jahre lebte Taher Salehs Familie hier, sechs Personen in drei Zimmern im ersten Stock. Deutschunterricht gab ihnen eine Ehrenamtliche im Keller, auch sie eine Grüne.
Als er jetzt auf den Eingang des Heims zugeht, kommt ein Mannschaftswagen der Polizei angerast. Einer der Bewohner hat einen anderen mit einem Messer verletzt. Männer stehen hinter dem Gittertor und schauen zu, wie Polizisten den Angreifer abzuführen versuchen. Der wehrt sich aus Leibeskräften und brüllt, als ging es um sein Leben.
„Gehen Sie weiter“, sagt ein Wärter zu Taher Saleh. „Ich bin Bundestagsabgeordneter“, entgegnet dieser, als sei es normal, dass Politiker abends um zehn vor Flüchtlingsheimen herumstehen. Der Wärter murmelt etwas, er scheint Taher Saleh nicht zu glauben.
Der Angreifer trägt nur T-Shirt und Hose, er brüllt und tritt um sich. Es ist eine bedrückende Szene. Drei Polizisten versuchen, den Mann auf den Rücksitz des Mannschaftswagens zu setzen, aber er leistet zu viel Gegenwehr. Sie zerren an ihm, schlagen ihn aber nicht. Vielleicht liegt das an Taher Saleha Anwesenheit. „Das wird hier nichts. Den kriegen wir nicht gewahrsamsfähig“, sagt einer der Polizisten. Sie entscheiden, ihn von Sanitätern abholen zu lassen. Es ist wohl nicht die schlechteste Entscheidung. In einem Krankenhaus scheint der Mann zweifellos besser aufgehoben als in einer Zelle.
Taher Saleh beobachtet alles schweigend.
„Ein bisschen retraumatisierend“ sei die Situation für ihn gewesen, sagt er später, denn „früher gab es das hier auch“. Wobei die Polizei damals „viel offensiver, viel aggressiver“ gewesen sei. „Die kamen nachts immer mit Schäferhunden rein.“ Die Familien hätten sie okay behandelt, am schlimmsten sei es alleinstehenden Männern ergangen. „Aber so was als Kind dauernd ansehen zu müssen, ist schon schrecklich.“
Für seine Eltern sei das Leben in der Asylunterkunft hart gewesen. „Man kommt, spricht die Sprache nicht, hat keinen Alltag. Ich hatte schon Alltag, mit Schule und Fußball. Aber meine Eltern haben gelitten ohne Ende, hatten Depressionen.“ Sein Bruder habe Medikamente gebraucht, ihm ging es psychisch so schlecht, dass die Familie 2008 in die Wohnung ziehen durfte, in der sie heute noch lebt, obwohl ihr Asylantrag noch gar nicht durch war. Erst 2011 sorgte ein Härtefallantrag für ein Bleiberecht.
Seine Mutter war im Irak Lehrerin, sein Vater, ein Volkswirt, arbeitete beim Zoll. Mit ihrem Lebensmittelgeschäft kämen sie heute zurecht. Aber sie konnten in Deutschland erst spät anfangen zu arbeiten. „Altersarmut ist da auch ein Thema“, sagt Taher Saleh. Als seine Eltern hörten, dass er in die Politik gehen wollte, waren sie dagegen. „ ‚Konzentrier dich auf dein Studium‘, haben sie gesagt.“ Aber schließlich wurde er eben doch Abgeordneter und lud seine Eltern in den Bundestag ein. „Sie waren super stolz, ohne Frage.“
Wenn er schon mal mit einem Reporter in der Stadt unterwegs ist, in der er aufwuchs, gibt er gern eine kleine Führung. Der Skateshop: „Da waren alle cool, fresh, gestylt. Stabile Jungs, die sprayen und HipHop mögen. Und sie waren immer klar gegen Rassismus“, sagt Taher Saleh. So sei der Laden ein „Safe Space“ für ihn gewesen.
Etwas weiter die Straße hinunter liegt das Islamische Zentrum Al-Muhadjirin. Nazis haben das Gebäude schon mehrfach mit Schweineblut und Schweineköpfen geschändet. Jahre nachdem Taher Saleh Plauen verlassen hatte, wurden Salafismus-Vorwürfe gegen Prediger des Zentrums laut. Als Jugendlicher hatte er hier Koran- und Arabisch-Unterricht. „Meiner Mutter war das extrem wichtig, ich hatte da damals überhaupt keinen Bock drauf.“ Er betet nicht, verzichtet aber auf Schweinefleisch und Alkohol, hält den Ramadan ein. „Weil mich das immer wieder zurück zu meinen Wurzeln bringt.“
Die Straßenbahnhaltestelle: „Da saßen immer alle. Sehen und gesehen werden“, erinnert sich Taher Saleh. „Meine Eltern haben gesagt:,Hey mein Sohn, bleib zu Hause!' Aber ich wollte auch cool sein, dazugehören.“ Anderen stand dafür der Alkohol offen, für ihn blieb der HipHop: „Massiv, Bushido, Sido, Hose in den Socken.“ Dieser Style scheint bei ihm noch heute durch, mit einer Frisur wie beim Rapper Haftbefehl, und auch diese bestimmte Art zu sprechen glimmt manchmal auf. Er habe selbst mal gerappt, sagt Taher Saleh, „aber das ist zum Glück bei Myspace verschwunden“.
Die Westseite der Altstadt liegt auf einem Höhenzug mit Blick auf die waldigen Hügel des Vogtlands. Seine Eltern hätten immer betont, wie schön es in der Region sei. „Die waren happy, dass wir nicht in einer größeren Stadt gelandet sind, wegen Drogen und so.“
Taher Salehs einstige Schule liegt in einem Plattenbauviertel. Im Musikzimmer warten Jugendliche auf ihn, er ist zu einer Fragestunde gekommen. Seine frühere Informatiklehrerin legt ihm eine Hand auf die Schulter und fragt: „Wie alt bist du jetzt?“ Die Direktorin scherzt: „Da merkt man, wie alt man selber ist.“ Sie ist offensichtlich stolz auf ihren früheren Schüler.
Taher Saleh trägt einen weiten Pulli, bunte Sneaker, bunte Socken. Das Einzige, was die Seriosität des Worts „Bundestag“ verströmt, ist eine braune Wildledermappe für sein iPad. Er schildert seinen Werdegang und schließt den kleinen Vortrag mit den Worten: „Die Plauener haben mich immer unterstützt“. Dann fragt er in die Runde: „Worüber wollt ihr reden? Klimakrise? Zocken? Cannabis?“ Für Jugendliche eine ausnehmend passende Ansprache – und sofort kommen die ersten Fragen.
„Wie viel verdienen Sie?“
Er rechnet vor, dass ihm von den 10.000 Euro Diät nach allen Abgaben – auch an die Partei – etwa 4.000 netto bleiben. „Viel Geld.“ Die Schüler nehmen es regungslos zur Kenntnis.
„Dürfen Sie irgendetwas nicht sagen in der Öffentlichkeit?“
„Nein, ich bin frei.“
Am Vortag war er schon mal hier in der Schule, in einer anderen Runde. Die Lokalzeitung Freie Presse hat einen Artikel darüber geschrieben. „Haben Sie schon mal gekifft?“, lautet die Überschrift. Die Direktorin hält den Artikel hoch. „Es gab bessere Fragen“, sagt sie.
„Es gab bessere“, bestätigt Taher Saleh. „Aber das ist Pressefreiheit.“
Die Schüler finden allerdings, dass es keine bessere als die Frage nach dem Marihuana gibt, also: „Wie war das erste Mal, als Sie gekifft haben?“
„Nichts gemerkt. Ich mache das nur punktuell, das entspannt mich“, sagt Taher Saleh. Dann erzählt er von der geplanten Legalisierung: „Nächstes Jahr können wir den ersten legalen Joint rauchen.“
Es ist wieder ein Heimspiel.
Anders als in Reichenbach, wo Taher Saleh am selben Tag noch den aufgebrachten Krisenstab besänftigen will, der einen Wutbrief an Robert Habeck geschickt hat.
Taher Salehs Referent hat ihm die Zahlen zur geplanten Gaspreisbremse zu spät geschickt, ein nervöses Telefonat ist fällig, während er mit dem elterlichen VW nach Reichenbach brettert. „Wie viel ist das genau?“, fragt Taher Saleh und schaut an einer Ampel ungeduldig auf sein Smartphone. Dann gibt er wieder Gas. „Pünktlich da sein ist sehr wichtig. Respekt.“
Er schafft es gerade noch rechtzeitig, parkt auf dem Marktplatz, schlüpft in ein hellblaues Hemd und ein braunes Sakko. Die bunten Sneaker und Socken lässt er an. Der Bürgermeister, der Leiter der Stadtwerke, die Chefin der Wohnungsbaugesellschaft und der Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung, ein Wurstfabrikant, sind gekommen. Sie hatten den Offenen Brief geschrieben. Wütend auf die Regierung sind sie immer noch. Auch ein grüner Ratsherr sitzt im Saal, und ein Reporter der Lokalzeitung.
Der Bürgermeister sagt, dass die Menschen „ja nicht zu Habeck gehen, sondern die stehen bei mir vor dem Schreibtisch“.
Der Fabrikant sagt, dass es „im Lebensmittelbereich sehr kritisch“ sei. „Da können manche nächstes Jahr dicht machen.“ Das „Hüh und Hott“ der Koalition habe „extrem genervt. Wir fühlen uns nicht mitgenommen“. Und warum werde ignoriert, dass Fachleute sagen, dass der Weiterbetrieb der AKWs sinnvoll sei?
Der Chef der Stadtwerke findet es „unfassbar, mit wie viel Geld um sich geschmissen wird. Wer soll das finanzieren?“ Regional Strom zu produzieren, das wolle man ja auch, aber so gehe das alles nicht. „Der Zappelstrom“ – er meint Sonne und Wind – „der ist mal da und mal nicht. Wir brauchen aber Transformation in gesicherte Leistung.“
Die Frau von der Wohnungsbaugesellschaft sagt: „Wenn 50 Prozent unserer Kunden die Erhöhung der Nebenkosten nicht zahlen können, sind wir in sieben Monaten pleite.“
Taher Saleh erwidert, dass er als Bauingenieur im Bundestag im Bauausschuss sitze. Dass er aus Plauen stamme und seine Eltern auch nicht viel Geld hatten.
Der Krisenstab nickt.
Umrüstungsförderung. 200 Milliarden Abwehrschirm. Preisbremse. 12 Cent für Privathaushalte, 7 Cent für Gewerbe und Kommunen. Das alles seien die Antworten der Ampel auf die „bekannte Problematik“. Taher Saleh spricht von LNG-Terminals, davon, dass „jetzt alle zusammen an einem Strang ziehen“. Und er duzt die Runde: „Ich höre mir hier eure Wünsche an, und nächste Woche gehe ich auf das Ministerium zu: Da müssen wir noch mal ran, und da müssen wir noch mal ran.“
Gegen den Ausbau der Erneuerbaren habe ja eigentlich keiner etwas, sagt der Fabrikant. „7 Cent, das ist Planungssicherheit, auch wenn die uns nicht gefällt. Aber jetzt können wir unsere Preise danach ausrichten.“
Der Geschäftsführerin der Wohnungsbaugesellschaft brennt noch etwas anderes unter den Nägeln, sie stört sich an der Russlandpolitik. „Warum ist Russland jetzt der Teufel?“, fragt sie. „Das Land hat unsere Besatzungszone geprägt. Wo sind denn jetzt die Diplomaten, die verhandeln?“
Taher Saleh sagt, er sei ein Fan von Diplomatie. „Aber Putin hat sich selbst isoliert.“ Die Frau ist nicht überzeugt. „Die viertgrößte Wirtschaftsnation schafft sich selber ab“, behauptet sie. „Das ist doch nicht die deutsche Mentalität, die ich kenne“, entgegnet Taher Saleh. „Wir machen den radikalen Wandel, um wieder Weltmarktführer zu werden.“
Solche Sätze hört man hier natürlich gern. Dann werden Selfies gemacht.
Ein guter Termin, sagt der Bürgermeister hinterher: „Zu den Menschen runterkommen, um unsere Perspektive zu verstehen.“ Taher Saleh setzt sich in die Dönerbude gegenüber vom Rathaus und bestellt Halloumi. „Ich hab’s noch härter erwartet“, sagt er. „Man kriegt sie über Respekt. Und über das ‚zusammen‘. Alle ein Team, gemeinsam. Und über die Identität. Meine Eltern sind ja ebenfalls von hier, verdienen auch keine 3.000 Euro.“
„Bundestagsabgeordneter nimmt Reichenbacher Sorgen mit nach Berlin“, steht am nächsten Tag in der Freien Presse. „Aus Plauen stammender Politiker hört sich die Nöte der Menschen in der Stadt an. Umsetzbarkeit von Politik soll geprüft werden.“
Es hilft, wenn man von hier kommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“