Grüne Mihalic über Verfassungsschutz: „Wir brauchen einen radikalen Cut“
Ein bloßer Wechsel an der Spitze des Verfassungsschutzes reiche nicht, sagt die Grüne Irene Mihalic. Das Bundesamt müsse ganz neu strukturiert werden.
taz: Frau Mihalic, die Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz wird ausgetauscht. Reicht das für einen Neuanfang?
Irene Mihalic: Nein, wir haben ohnehin viel zu lange über Herrn Maaßen und viel zu wenig über strukturelle Probleme des Bundesamtes für Verfassungsschutz diskutiert. Wir brauchen einen kompletten Neustart. Wir Grünen fordern seit langem, dass das Bundesamt in seiner derzeitigen Form aufgelöst und durch zwei neue Einheiten ersetzt wird.
Welche strukturelle Probleme sehen Sie?
Das ist vor allem die mangelnde Analysefähigkeit. Wir haben gerade auch wieder in Chemnitz gesehen, wie sich in kürzester Zeit viele tausend Rechtsextremisten an einem Ort versammeln können. Wir wissen zu wenig über rechte Netzwerkstrukturen, da hat das Bundesamt eine Analyseschwäche. Im Verfassungsschutzbericht sieht man Wanderungsbewegungen von einer Partei zur nächsten, aber wie die Netzwerke funktionieren, das sieht man nicht. Alles, was ich zum Beispiel aus dem NSU-Untersuchungsausschuss über solche Netzwerke weiß, weiß ich von Wissenschaftlern oder von engagierten Journalisten, die viel in diesem Bereich recherchieren. Aber nicht vom Bundesamt für Verfassungsschutz.
Gilt das auch für den Islamismus? Herr Maaßen und seine Behörde werden ja innerhalb der Union immer wieder dafür gelobt, hier gute Arbeit zu leisten.
Selbstverständlich gilt das auch für diesen Bereich. Das hat sich ja beim Fall Amri ganz klar gezeigt. Amri wurde letztlich als Kleinkrimineller abgetan, von dem keine Anschlagsgefahr ausgehe. Wie extremistische Netzwerke arbeiten und wo Schnittstellen zu konkreten Gefahren sind, wissen wir eben auch beim islamistischen Terrorismus nicht.
Was müsste aus Ihrer Sicht also passieren?
Wir wollen keine Abschaffung, sondern eine Umstrukturierung des Bundesamtes. Wir wollen ein unabhängiges wissenschaftliches Institut zum Schutz der Verfassung, das anhand von offen zugänglichen Quellen extremistische Bestrebungen aufklärt und die Öffentlichkeit und die Sicherheitsbehörden darüber informiert. Und daneben soll es ein Amt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr geben, sozusagen den Rest des jetzigen Bundesamtes reduziert auf seine Kernaufgaben. Dieses Amt wird immer dann zuständig sein, wenn das wissenschaftliche Institut mit offenen Quellen nicht weiterkommt und nachrichtendienstliche Mittel notwendig sind. Und wenn sich aus der Beobachtung konkrete Gefahren ergeben, ist die Polizei zuständig. Wir wollen klarere Zuständigkeiten und hoffen, dass mit mehr wissenschaftlicher Expertise extremistische Bestrebungen viel besser aufgeklärt werden.
Soll es nach Ihren Vorstellungen weiter V-Leute geben?
Wir brauchen sehr enge gesetzliche Anforderungen an den V-Leute-Einsatz, der immer nur Ultima Ratio sein kann. Schließlich hat sich beim NSU gezeigt, dass V-Leute im Rechtsextremismus sogar noch dazu beigetragen haben die Strukturen zu unterstützen, die man eigentlich bekämpfen wollte.
Warum sollte die Analysefäh igkeit durch eine neue Struktur zunehmen?
In der alten funktioniert es jedenfalls nicht. Und das lässt sich aus der Geschichte herleiten. Die Verfassungsschutzbehörden wurden ja gegründet, ohne dass es eine klare Aufgabenbeschreibung gab. Wenn es eine neue Aufgabe gab, wurde irgendetwas angebaut. Dann kam der NSU-Skandal, dann hat man versucht innerhalb der Struktur etwas zu ändern, aber immer mit keinem oder mäßigem Erfolg. Das muss sich ändern, wir brauchen einen radikalen Cut.
Wü rde ein Totalumbau die Behör de nicht komplett lahmlegen?
Wahrscheinlich wird es nie einen guten Zeitpunkt geben, aber wir müssen jetzt die ersten Schritte gehen, damit wir mittelfristig die dringend notwendige Neustrukturierung auf den Weg bringen.
Innenminister Seehofer hat am Mittwoch anders als erwartet keinen Nachfolger für Maaßen an der Spitze des Verfassungsschutzes benannt. Wie deuten Sie das?
Es ist schon bezeichnend, dass Seehofer erst einmal die Versorgung und den Aufstieg Maaßens zum Sicherheitschef des Innenministeriums organisiert, bevor er die Nachfolge im Bundesamt regelt. Die ganze Causa ist skandalös. Dieser Innenminister ist nicht mehr tragbar.
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