Grüne Klimapolitik: Wer macht weiter?
Mit Graichen verlässt der wichtigste Experte und Anwalt für Klimaneutralität die Regierung. Eine Neubesetzung könnte jedoch auch eine Chance sein.
Weil er Berufliches und Privates nicht strikt getrennt hat, muss Patrick Graichen nun gehen. Viele hielten ihn für Habecks wichtigsten Mitarbeiter. Denn quer durch alle politischen Lager und Meinungen zur „Affäre Graichen“ ist das Urteil einhellig: Patrick Graichen sei „der Mastermind der Energiewende“ und „fachlich unverzichtbar“.
Wie also geht es weiter mit der Energiewende, wenn der zentrale Lotse über Bord geht? Stockt mit dem Ende der kurzen Ära Graichen auch der Umbau Deutschlands Richtung Klimaneutralität?
Nein, sagt das Wirtschaftsministerium auf Anfrage: „Wir haben nach Jahren des Stillstands und der Blockaden in der alten Bundesregierung eine neue Dynamik ausgelöst und wesentliche Weichen in Richtung Energiewende und Klimaneutralität gestellt“, heißt es. „Daran arbeiten wir mit unveränderter Kraft und Konzentration weiter.“
Tatsächlich hat das Wirtschaft- und Klimaschutzministerium (BMWK) unter Patrick Graichen in nur eineinhalb Jahren ein extrem ehrgeiziges Programm umgesetzt. Fast alle der Vorgaben aus dem Kapitel Energie des Ampel-Koalitionsvertrags sind angeschoben oder umgesetzt. Graichen wollte die Versäumnisse und Verzögerungen der Vorgängerregierungen aufholen.
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Und zu einem ordentlichen Teil sei das auch gelungen, sagt Andreas Löschel, Professor für Umweltökonomik an der Uni Bochum und seit Langem Mitglied in der Expertenkommission der Regierung zum „Monitoring der Energiewende“. „Das Ministerium hat angefasst, was dringend nötig war, und die größten Baustellen umfangreich abgearbeitet.“ Löschel sagt aber auch: „Die dicksten Brocken kommen erst noch.“
Mit einer Flut von 22 Gesetzen und 19 Verordnungen bis Ende 2022 („Osterpaket“, „Sommerpaket“) hat das BMWK der Energiewende einen Neustart verordnet. Zentral dabei ist etwa die Umsetzung folgender Pläne: höhere Ausbauziele bei Wind an Land und auf See und bei PV-Strom, also Strom, der mit einer Photovoltaikanlage erzeugt wird; Abschaffung der EEG-Umlage; die Beschleunigung im Verfahren beim Windausbau, schnellere Planung der Stromnetze; die Normen für die Bekämpfung der Gasknappheit inklusive Baubeschleunigung bei den LNG-Terminals; die Ausweitung des nationalen Emissionshandels; die Regelung, Kohlekraftwerke aus der Reserve zu holen, und das jetzt heftig umkämpfte „Gebäude-Energiegesetz“ (GEG), das als „Habecks Heizungsverbot“ für viel Unruhe und Kritik gesorgt hat – und dessen rasche Umsetzung noch vor dem Sommer den nächsten Koalitionskrach bringen wird: Habeck geht davon aus, dass gilt, was im Kabinett beschlossen wurde. Die FDP will nachverhandeln.
Das zeigt: Graichen hat viel erreicht, aber es bleibt noch sehr viel mehr zu tun. „Das ist ein Marathon, und wir sind vielleicht bei der Hälfte der Strecke“, sagt Umweltökonom Andreas Löschel. Einerseits müsse Graichens NachfolgerIn manche Details nacharbeiten, etwa beim PV-Ausbau oder eventuell bei den Flächen für Windkraft.
Vor allem gebe es aber auch Fragen, die „muss man nicht übers Knie brechen, aber bis Jahresende abräumen: die zukünftige Förderung der Erneuerbaren, die regionalen Strompreise und die Frage des Industriestroms, der schnellere Ausbau der Netze, die Investitionsanreize für neue Kraftwerke“. Auch fehle immer noch das Energie-Effizienz-Gesetz, Klarheit über den Verlauf des Kohleausstiegs, der Aufbau der Wasserstoff-Wirtschaft – und der Konflikt rund um das neu formulierte Klimaschutzgesetz ist in der Ampel auch noch nicht entschieden.
Kritische Phase
Für Martin Kaiser, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, kommt Graichens Abgang „in einer kritischen Phase der Energiewende, wo die konkreten Veränderungen bei den Menschen ankommen“. Deshalb müsse die Regierung etwa bei der Wärmewende „einen klaren Kompass“ zeigen, ihr Handeln besser erklären und anschlussfähig bleiben. „Ein Personalwechsel in so einer Phase ist nie eine gute Nachricht“, so Kaiser. Aber die Energiewende „darf nicht aufgeschoben werden, weder von Minister Habeck noch von Kanzler Scholz oder Finanzminister Lindner“. Das Heizungsgesetz müsse mit einem gut erklärten Förderprogramm verabschiedet werden, der Bau neuer LNG-Terminals und neue Gasbohrungen müssten beendet werden.
Und auch der CDU-Energieexperte Andreas Jung sieht als „unerledigte Baustellen“ die „Wärmewende, den geplanten Hochlauf der Wasserstoff-Wirtschaft, die Frage der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und die Haltung zur CO2-Abscheidung (CCS/CCU)“.
Der Tenor vieler vertraulicher Gespräche: Graichens Abgang ist ein Verlust, aber vielleicht auch eine Chance. Die Fundamente seien gelegt, die Trümmer der Vergangenheit mit schwerem Gerät weggeräumt. Jetzt komme es darauf an, das leichtere Besteck auszupacken, also besser zuzuhören, zu erklären, die Leute mitzunehmen, weil die Heizung im Keller und das Auto vor der Tür sehr viele Menschen direkter betreffe, als der Bau von Windanlagen auf dem Land. Das gehe mit einem neuen Gesicht vielleicht sogar besser.
Ob Graichens Aus die Energiewende ausbremst, wird sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin entscheiden. Er oder sie trifft auf ein Ministerium, in dem die Mitarbeitenden seit Amtsantritt der Grünen viel, lange und engagiert gearbeitet haben. Schließlich haben sie – unter Führung und in Verantwortung von Patrick Graichen – Deutschland in einem Crashkurs von der Abhängigkeit von russischem Gas befreit, genug Gas für Heizungen und Industrie besorgt und ein Preischaos verhindert. Und gleichzeitig die geplante und ohnehin anspruchsvolle Agenda zum Klimaschutz erstaunlich planmäßig umgesetzt.
Auch wegen dieser Leistung nimmt Habeck immer wieder seine Mitarbeitenden gegen Kritik in Schutz. Der viel geschmähte Graichen hinterlässt große Fußstapfen. Denn wie kaum ein anderer hat er sich seit Jahrzehnten mit Energie- und Klimafragen beschäftigt und ein Netz von Beziehungen aufgebaut, das für effektives Arbeiten unerlässlich ist – auch wenn es jetzt durch seine Fehler in Misskredit geraten ist und als „Familienclan“ oder „Mafia“ verunglimpft wird.
Ein Beispiel ist dafür auch das Öko-Institut, bei dem Graichens Geschwister Verena und Jakob als Energieexperten arbeiten – ein seriöses und bewährtes Forschungsinstitut, das seit Jahrzehnten seine Expertise Regierungen aller Couleur und vielen Unternehmen zur Verfügung stellt. Plötzlich muss sich wegen der „Graichen-Affäre“ auch Expertise aus dem Öko-Institut oder dem parteiübergreifenden und konsensorientierten Thinktank „Agora Energiewende“ gegen Stimmen wehren, sie seien parteiisch und zu nah an den Grünen. Den klimaneutralen Umbau Deutschlands wird diese vergiftete Debatte erschweren.
Agora-Konzept als Grundlage
Denn Graichen steht für weit mehr als nur „die Energiewende“. Als Agora-Chef ließ er 2020 die bahnbrechende Studie „Klimaneutrales Deutschland 2050“ erstellen. Die rechnete detailliert für alle Sektoren der Volkswirtschaft durch, wie Deutschland sein Ziel erreichen könne, bis Mitte des Jahrhunderts auf Nullemissionen zu kommen. Die offizielle Regierungspolitik der Ampel, das Klimaschutzgesetz (KSG) aus der Großen Koalition von 2021, welches das Netto-Null-Ziel auf 2045 vorzog, und das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 fußen letztlich alle auf der Grundlage dieses Agora-Konzepts.
Diese Urheberschaft hat Patrick Graichen großen Überblick und tiefe Einblicke in die einzelnen Fachgebiete eingebracht – und eine Menge Ärger. Denn ein Klimaschutzministerium muss sich bei den anderen Ressorts einmischen, wenn diese den Klimaschutz vernachlässigen.
Und das passiert laufend: Das Verkehrsministerium etwa hat bislang keine echten Lösungen für seine Emissionen angeboten; das Finanzministerium denkt über den Abbau von klimaschädlichen Subventionen nur sehr langsam nach; selbst das grün geführte Landwirtschaftsministerium scheut sich davor, den zentralen Beitrag zum Klimaschutz – weniger Tierhaltung – offensiv zu fordern. Und das Kanzleramt kümmert sich lieber um Gasimporte, als offensiv das erklärte Ziel der Ampelkoalition zu propagieren, ihre Politik auf den „1,5-Grad-Pfad auszurichten“.
Vielen Ressortverantwortlichen fehlt eine Eigenschaft, die Patrick Graichens Arbeit geprägt hat: Die Konzentration auf das Ziel der Zukunft, Netto-Null in 2045. Kein anderes Ministerium hat eine ähnlich klare Vorstellung davon, was es heute und sofort tun muss, um die Ziele in 22 Jahren nicht zu reißen.
Mit Graichen verschwindet aus der Regierung nicht nur der Manager der Energiewende, sondern vor allem auch eine zentrale Figur, die Politik konsequent vom Ende her denkt.
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