Grüne Jugend gegen rot-grüne Koalition: „Wir lehnen den Koalitionsvertrag ab“
Am Montag sollen Hamburgs Grüne dem Koalitionsvertrag mit der SPD zustimmen. Die Grüne Jugend hält vor allem die Asylpolitik für „unmenschlich“.

taz: Leon Meyer, wie findet die Grüne Jugend Hamburg den am Donnerstag vorgestellten rot-grünen Koalitionsvertrag?
Leon Meyer: Wir finden ihn ziemlich ambitionslos. Da werden Inhalte, die schon im letzten Koalitionsvertrag standen, wieder als Erfolg verkauft. Und der Vertrag schlägt in eine Richtung ein, die wir nicht gutheißen.
taz: Meinen Sie das Ziel, die Zahl der Rückführungen von Asylbewerbern zu erhöhen?
Meyer: Zum Beispiel. Das lehnen wir ab. Einfach von höheren Abschiebezahlen zu sprechen, ohne die Schicksale dahinter zu berücksichtigen, finden wir unmenschlich. Da bedient man populistische Narrative. Das wird Auswirkungen haben.
taz: Gerade kämpft eine 5. Klasse dafür, dass ihre Mitschülerin Chanelia nicht abgeschoben wird. Beschäftigt das Thema gerade junge Menschen?
Meyer: Ja, genau. Dieser Fall zeigt, dass es vor allem Menschen trifft, die vulnerabel sind, die in diese Gesellschaft integriert sind. Die werden aus ihrem Leben herausgerissen.
taz: Was sagen Sie zur Formulierung, es werde die Kapazität für Abschiebehaft „bedarfsgerecht“ angepasst?
Meyer: Abschiebehaft ist kein sinnvolles Mittel. Abschiebungen sind generell ein hoher Eingriff in die persönliche Freiheit. Und nur weil sich ein Mensch hier aufhält, sollte man ihn nicht in Haft bringen. Der Mensch hat kein Verbrechen begangen.
taz: Die Koalition hält auch am umstrittenen Dublin-Zentrum fest, wo Geflüchtete statt Asylleistungen nur noch ein Bett, Brot, Seife und medizinische Notversorgung bekommen. Was sagen Sie dazu?
Meyer: Diese Praxis ist unmenschlich, das haben wir als Grüne Jugend auch schon kritisiert. Und genau da macht die Koalition einfach weiter. Wir lehnen den Kurs ab.
taz: Haben Sie das mit der Mutterpartei diskutiert?
Meyer: Ja, wir haben deutlich gesagt, dass wir die bisherige Asyl- und Migrationspolitik nicht gut finden, und ein Auge darauf werfen, was dazu im Koalitionsvertrag steht. Und leider werden wir da jetzt enttäuscht.
taz: Was wurde versprochen?
Meyer: Nein, Versprechen wurden uns nicht gemacht. Die Parteispitze hörte uns an. Man sagte, man schaut, wie gut man in den Verhandlungen durchsetzen kann, was im Wahlprogramm steht. Und hier setzte man sich, wie man sieht, leider nicht durch.
taz: Was sagen Sie zum Moratorium für Parkplatzabbau?
Meyer: Das führt zu einer Abkehr von der Mobilitätswende, denn es rückt das Auto auf einmal wieder in den Fokus. Bisher galt der Anspruch, alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt zu behandeln und die jahrzehntelange Bevorzugung des Autos zu beenden. Doch genau da knüpft der Koalitionsvertrag an. Man ließ sich breitschlagen, eine autofreundlichere Politik zu machen und am Ende wahrscheinlich wieder mehr Parkplätze zu bauen. Finden wir nicht gut.
taz: Gibt es weitere Punkte, die Ihnen so gar nicht gefallen?
Aus der Partei ausgetreten ist Ende September ist der komplette Bundesvorstand der Grünen Jugend. In der Folge traten auch einige Mitglieder des Hamburger Landesvorstands zurück.
Unter dem Motto "Zeit für was Neues" haben sie angekündigt, einen neuen linken Jugendverband zu gründen.
Der prominenteste Austritt in Hamburg war jener der Bürgerschaftsabgeordneten Ivy Müller. Sie forderte "eine neue Politik, die Abstiegsängste ernstnimmt und Gerechtigkeit schafft“ und schloss sich als parteilose Abgordnete der Linken an.
Meyer: Ja. Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz bei Einstellungen in den öffentlichen Dienst. Das ist ein Instrument, das dazu führt, dass Gruppierungen, die beispielsweise im Klimaschutzaktivismus aktiv sind, aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden. Das trifft viel mehr Leute, als es treffen sollte.
taz: Es schüchtert ein?
Meyer: Genau. Es gab diese Regelanfrage ja schon. In den 1970ern nannte man sie Radikalenerlass. Und wir fürchten, jetzt kommt der Radikalenerlass 2.0.
taz: Gibt es gute Punkte im Koalitionsvertrag?
Meyer: Beim Thema Landes-Antidiskriminierungsgesetz gibt es Fortschritte. Die SPD hatte dies 2020 noch verweigert. Jetzt kommt so ein Gesetz. Das finden wir gut. Aber der Stillstand überwiegt. Wir hätten uns mehr Mut und Fortschritt gewünscht.
taz: Wie geht es eigentlich der Grünen Jugend? Waren nicht viele ausgetreten?
Meyer: Ja, nachdem der Bundesvorstand zurücktrat, taten es dem auch viele Landesvorstände gleich. In Hamburg traten sechs der acht Vorstandsmitglieder aus der Partei aus. Andererseits haben wir viele neue Mitglieder.
taz: Wie viele sind Sie denn?
Meyer: Ungefähr 650.
taz: Montag stimmt die Grüne Mitgliederversammlung über den Vertrag ab. Zu welcher Entscheidung raten Sie?
Meyer: Wir als Grüne Jugend Hamburg lehnen den Vertrag ab und ermutigen auch alle anderen in der Partei, dies zu tun. Im besten Fall ist die SPD dann zu Nachverhandlungen bereit. Denn wir hörten ja, es gab bei den Verhandlungen ein sehr freundliches Klima, einen sehr konstruktiven Austausch. Und wenn die SPD so konstruktiv mit den Grünen umgeht, wird sie den Wunsch der Mitglieder auch berücksichtigen, in Nachverhandlungen zu treten. Wir begrüßen eine grüne Regierungsbeteiligung, aber eben nicht um jeden Preis.
taz: Wie schätzen Sie die Stimmung der Grünen ein?
Meyer: Gespalten. Es gibt Leute, die finden die Kompromisse gut. Aber viele sehen auch, dass die Kröten, die wir schlucken, zu groß sind.
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