Großbritannien nach der Wahl: She's lost control
Wir haben Briten nach der Wahl gefragt: Was macht Ihnen Hoffnung, was Angst? Und welcher Popsong könnte jetzt weiterhelfen?
„Das ist wischi-waschi“
Ich bin geschockt. Die Leute haben nicht verstanden, was Theresa May ihnen sagen wollte. Sie wollte eine klare Mehrheit, damit sie besser mit der EU verhandeln kann. Ich glaube, wir Briten hätten zusammenstehen sollen. Das Ergebnis ist das allerschlechteste, es ist wischi-waschi.
Meine Eltern kamen 1958 aus Pakistan, sie haben immer Labour gewählt. Wir waren eine der ersten Einwandererfamilien in unserer Stadt. Meine Stimme geht fast immer an die Conservative Party. Ein paar Ideen der Tories klangen so, als seien sie schlecht für die ganz normalen Leute. Aber wenn sie mal die Details gelesen hätten, würden sie sehen, dass die Ideen gut sind: Es geht um Investitionen in kleine Unternehmen. Immer wenn Labour an die Macht kommt, geht der private Sektor zugrunde.
Labour hat einen Wahlkampf voller Illusionen geführt, auf die vor allem die Youngsters reingefallen sind. Sie wurden verarscht. Den jungen Briten wurde versprochen, dass sie kostenlos studieren dürften. All diese Youngsters waren noch sehr jung, als Tony Blair 1997 mit Labour die Studiengebühren einführte. Das ist doch heuchlerisch! Und das Geld wollten sie von den kleinen Unternehmen holen. Vielleicht hätte Labour gewinnen sollen, damit alle sehen, was für Lügner sie sind.
Meine größte Sorge ist, dass der Brexit chaotisch wird, dass Theresa May immer wieder vors Parlament treten muss und Labour eine harte Oppositionsarbeit macht. Sie denken nur an ihre eigenen Interessen, nicht an die des Landes.
Persönlich macht mir die Spannung zwischen den Ethnien Angst. Es gibt immer mehr Rechtsextreme, aber auch die Linken schüren Hass. Für mich als Muslim und Sohn pakistanischer Eltern ist das bedrohlich. Als junger Mann habe ich viel Rassismus erlebt, jetzt kommt das alles wieder. Die Regierung konzentriert sich auf eine Quelle des Hasses, den islamischen Terrorismus, aber der Hass kommt von überall.
Wir haben unsere Interviewpartner gefragt, welche Lieder zur Stimmung in Großbritannien nach der Wahl passen. Die Playlist gibt es auf Youtube.
Der Wahlkampf, das Brexit-Referendum, der Terror – all das spaltet unser Land. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland läuft, aber ich höre immer, dass es bei euch viel harmonischer ist. Leute wie Corbyn sollen sich mal zusammenreißen und Liebe in dieses Land bringen. Theresa May war sehr unklar, sie kam schwach rüber, aber sie verbreitet keinen Hass.
Faraz Bhatti, 44, ist Unternehmensberater in Bury, Nordengland. Sein Song der Stunde ist „Lets face the music and dance“ in der Version von Frank Sinatra: „There may be trouble ahead…“
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„Ich bin verkatert“
Mein Freund kam am Wahlabend gegen zehn Uhr abends von der Arbeit, dann haben wir die halbe Nacht Nachrichten geschaut und Wein getrunken. Jetzt bin ich ziemlich verkatert. Keine Ahnung, was ich von dem Wahlergebnis halten soll. Niemand weiß, wie es jetzt weitergeht. Ich freue mich, dass es sehr viel mehr Labour-Wähler gibt als gedacht. Und ich frage mich, was Labour hätte erreichen können, wenn der Wahlkampf noch zwei Wochen länger gedauert hätte.
Ich habe als Schauspielagentin gearbeitet. Als vor einem Jahr mein Sohn Gryffin geboren wurde, habe ich aufgehört zu arbeiten. Die Kita hätte genau so viel gekostet, wie ich verdient habe. Jetzt bin ich Hausfrau, bis mein Sohn drei Jahre alt ist. Die Kinderbetreuung war ein Grund, warum ich Labour gewählt habe.
Deutschland bewaffnet sich. Seit einigen Jahren kaufen Menschen hierzulande mehr Pistolen, die Schreckschusspatronen, Gas oder echte Munition verschießen. Die taz.am wochenende vom 10./11. Juni hat recherchiert, warum Menschen schießen wollen. Und: In Großbritannien wurde gewählt. Wie geht Theresa May mit ihrer Niederlage um und was heißt das für Europa? Außerdem waren wir beim Midburn-Festival in der israelischen Wüste und feiern die Stachelbeere. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Selten war auf den Straßen so viel los wie am Wahltag. Das macht mir Hoffnung. Je mehr junge Leute zur Wahl gehen, desto besser. Viele junge Wähler waren beim Brexit nicht registriert, das war diesmal zum Glück anders.
In meinem Viertel wohnen viele afrikanische und asiatische Einwanderer. Ich habe Angst, dass Großbritannien nach dem Brexit seine Multikulturalität verliert. Ich lebe hier in Manchester in einer linken Blase. Ich kenne keinen einzigen konservativen Wähler, nicht mal bei Facebook. Aber wenn ich in den Nachrichten die Landkarte nach der Wahl sehe, merke ich, dass ich in einem konservativen Land wohne. Es gruselt mich, dass die Mehrheit so egoistisch und kurzsichtig gewählt hat. Die Vorstellung, dass mein Sohn hier aufwächst, macht mir Angst. Deshalb überlegen mein Freund und ich, nach Kanada oder Neuseeland auszuwandern, wenn der Brexit kommt.
Normalerweise habe ich immer die Grüne Partei gewählt, jetzt zum ersten Mal Labour. Das lag vor allem an Jeremy Corbyn. Er ist der erste Politiker, dem ich wirklich vertraue, er macht mir Hoffnung. Aber die Medien sind nicht fair mit ihm umgegangen, besonders die Boulevardzeitungen: Sie denken immer noch, nur ein Mann in schickem Anzug ist president material.
Ich glaube, ohne die Terroranschläge hätte Corbyn noch besser abgeschnitten. Er ist Pazifist und nicht der starke Mann, den viele dann gern wählen. Wenn er so weitermacht, hat er gute Chancen, die nächste Wahl zu gewinnen.
Java Bere, 33, ist Hausfrau in Manchester. Ihr Lied der Stunde ist „Magnificent (she says)“ von Elbow. Es gibt ihr Hoffnung auf die Zukunft: „It's all gonna be magnificent, she says“.
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„Ich bin trotzdem für den Brexit“
Ich war auf der Wahlparty der Tories in London, bin extra aus Nottinghamshire gekommen. Eigentlich hatte ich gedacht, ich fahre zu einer Siegesfeier. Jetzt bin ich extrem enttäuscht, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Brexit-Verhandlungen werden jetzt noch schwieriger. Ich glaube sogar, May wird noch zurücktreten. Vielleicht wird der ganze Brexit noch verhindert.
Für mich waren der Brexit und die Wirtschaftspolitik die wichtigsten Wahlthemen. Ich bin Eigentümer der Firma Europa Worldwide Group, eines der größten Logistiker des Landes. Wir haben einen Jahresumsatz von 116 Millionen Pfund, 80 Prozent unseres Handels läuft mit Europa.
Bei dem Namen meiner Firma denken Sie jetzt, ich bin gegen den Brexit, aber ich habe dafür gestimmt. Das Vorurteil, dass man gegen Europa und Freihandel ist, wenn man für den Brexit gestimmt hat, lasse ich nicht gelten. Ich glaube, die EU wird ökonomisch scheitern. Eine Wirtschaftsunion ohne eine politische Union, das funktioniert einfach nicht.
Ich bin total überrascht, dass die Wahl am Ende so knapp geworden ist, trotz der Terroranschläge. Corbyn hat in den letzten Jahren im Parlament immer wieder gegen Sicherheitsgesetze gestimmt. Aber nur May wurde vorgeworfen, dass sie als Innenministerin das Budget der Polizei gekürzt hat.
Meine Nichte war beim Konzert von Ariana Grande in Manchester, als der Anschlag passierte. Ich habe erst hinterher davon erfahren. Zum Glück blieb sie unverletzt. Ich weiß aber nicht, wie ein kleines Mädchen so etwas verarbeiten kann.
Worauf ich hoffe? Da gibt es gerade nicht viel. Ich befürchte, dass die Tories lange mit internen Kämpfen beschäftigt sind und es im Herbst wieder Wahlen gibt.
Andrew Baxter, 42, ist Unternehmer in Nottinghamshire. Das Lieblingslied seiner Nichte ist von Ariana Grande und passt zum Brexit: „'Cause if you want to keep me, you gotta, gotta, gotta, gotta, got to love me harder.“
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„Der Terror war nicht wahlentscheidend“
Ich bin erleichtert, dass May so stark verloren hat! Wenn es nach meinem Gehalt geht, hätte ich sie wählen müssen, dann würde ich weniger Steuern bezahlen. Aber ich arbeite als Ärztin im NHS, dem nationalen Gesundheitssystem. David Cameron hat in seiner Amtszeit dort schon stark gekürzt. Wenn May die Wahl klar gewonnen hätte, hätte sie es irgendwann ganz privatisiert. Jetzt hoffe ich, dass die Pläne verschoben werden.
Früher habe ich die Liberal Democrats gewählt, in Stockport, wo ich aufgewachsen bin, machte man das so. Aber als die Partei 2010 eine Koalition mit Cameron eingegangen ist, bin ich zu Labour gewechselt.
Für mich ist die Zukunft des NHS das wichtigste Thema der Wahl und für die Zukunft Großbritanniens. Die Anschläge waren nicht wahlentscheidend. In meinem Umfeld hat niemand Angst, obwohl ich in Manchester wohne. Beim Anschlag war ich zu Hause, ich wusste vorher gar nicht, wer die Sängerin Ariana Grande ist. Am nächsten Morgen habe ich vor der Tür meine Nachbarn getroffen, die waren total verstört. Sie haben eine 16-jährige Tochter, sie ist Fan und viele ihrer Freunde waren auf dem Konzert. Ich selbst musste keine Verletzten versorgen, aber wir behandeln traumatisierte Jugendliche, die beim Konzert waren.
Ich befürchte, dass das unklare Wahlergebnis dafür sorgt, dass sich das Land nicht bewegt. Vor Europa stehen wir doch jetzt wie Idioten da. Die EU wird beim Brexit hart verhandeln, und das kann ich gut verstehen, aber es macht mir auch Angst.
Deshalb hoffe ich, dass es bald Neuwahlen gibt. Vielleicht kommt Ed Miliband wieder zurück zu Labour. Ich mag Corbyn, aber ich glaube, das Land ist nicht bereit für ihn, er ist zu extrem. Er ist wie Marmite, der Brotaufstrich: Entweder man mag ihn oder man hasst ihn.
Danielle Peet, 34, ist Ärztin in Manchester. Ihr Lieblingslied ist „Live Forever“ von Oasis, das auch auf dem Gedenkkonzert nach dem Terroranschlag gespielt wurde: „But now is not the time to cry, Now’s the time to find out why.“
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„Corbyn macht Vorurteile gegen Israel salonfähig“
Ich habe gemischte Gefühle. Dass Jeremy Corbyn so viel Unterstützung bekommen hat, beunruhigt mich. Denn obwohl ich Labour-Mitglied bin, wollte ich ehrlich gesagt nicht, dass das passiert. Unter Corbyn gab es in der Labour Party immer wieder antisemitische Äußerungen, er machte Vorurteile gegenüber Israel salonfähig.
Ich hoffe, dass Theresa May nicht so weitermachen kann wie bis bisher: Die Konservativen wollten zum Beispiel die Sozialhilfe für Familien mit vielen Kindern kürzen. Das schadet meiner Gemeinde, weil orthodoxe Juden meistens sieben Kinder oder mehr haben. Außerdem fände ich es gut, wenn der Brexit nun sanfter verhandelt würde. Das ist mir wichtig, weil ich mein Leben der Tatsache verdanke, dass meine Eltern vor dem Krieg fliehen und hier einwandern durften.
Ich wünsche mir, dass die Labour-Abgeordnete meines Wahlkreises, Diane Abbott, in Zukunft kompetenter auftritt. In Interviews hatte sie ihre Zahlen nicht beisammen, woraufhin sie von anderen Politikern und der Presse ausgelacht wurde. Abbott hat karibisch-afrikanische Wurzeln, sie war die erste schwarze Frau im britischen Parlament. Wie unsere Medien sie behandelt haben, war wirklich rassistisch. Ich hoffe, dass Abbott durch ihre bedauernswerten Erfahrungen mit dem Rassismus auch für die jüdische Gemeinde Mitgefühl entwickelt. Vor einem Jahr verglichen Mitglieder unseres Labour-Ortsvereins Zionismus mit dem Nationalsozialismus.
Meine Ängste haben viel mit meinen Hoffnungen zu tun. Ich habe Angst, dass nach all dem, was in unserem Land passiert ist, die Menschenrechte missachtet werden und Extremisten unsere Gemeinschaft spalten. Immer mehr Leute verwechseln religiösen Konservatismus mit religiösem Extremismus. Manche glauben, dass eine Frau mit Hidschab eine Bombe trägt. Ich hoffe, dass die Solidarität und die Macht der Liebe wachsen – so wie bei der Andacht zum Terroranschlag auf der London Bridge, wo ich die Hand eines Muslims hielt. Wenn alle Religionen zusammenkommen, erreichen wir das Gegenteil dessen, was die Terroristen wollen.
Abraham Pinter, 68, ist Direktor einer jüdischen Mädchenschule und seit Jahrzehnten eine der offiziellen Stimmen der größten orthodoxen jüdischen Gemeinde Europas, der des Londoner Viertels Stamford Hill. Er hört gerade oft das Lied „Aderaba“, das auch ein Gebet ist. Es geht darum, das Schöne zu sehen anstatt das Böse. Seine Lieblingsversion hat Abraham Fried eingesungen.
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„Die letzte Hoffnung ist die EU“
Das Ergebnis ist großartig, wenn man daran denkt, wo wir noch vor sieben Wochen waren. Ich hatte zwar gehofft, dass wir aus dieser Wahl mit einer starken linken Regierung herauskommen, die die Macht hat, die sieben Jahre währenden Kürzungen der Tories wieder rückgängig zu machen, aber zu sehen, wie Theresa May ihre Mehrheit verliert, ist auch schön. Die Kürzungen haben den Sozialstaat zerstört und die Solidarität in diesem Land sehr beschädigt.
Für Schottland fände ich eigentlich eine starke Scottish National Party an der Seite von Jeremy Corbyn am besten. Obwohl die SNP, die hier ja gerade regiert, in letzter Zeit auch viel Mist gebaut hat. Sie ist viel zu zaghaft, wagt sich nur an Kleinigkeiten.
Mir hätte eine allmächtige, turbogeladene Theresa May Angst gemacht, die ihre rechte Politik den Armen und vom System Gebeutelten aufdrückt. Zum Glück ist es nicht so weit gekommen. Dass sie jetzt plötzlich offen sein und alle einbeziehen will, ist doch ein Witz. Sie ist ein Hindernis auf dem Weg zu vernünftigen Verhandlungen mit der EU, das wir loswerden müssen.
Ich bin nicht wirklich proeuropäisch, obwohl ich gegen den Brexit bin. Aber Mays Vision, aus Großbritannien eine Big-Brother-Steueroase zu machen, die in einer schrecklichen Allianz mit Donald Trumps Amerika steht – das ist die eigentlich Axe des Bösen –, lässt mich die EU jetzt schon vermissen. Obwohl die europäische Union viele Makel hat, ist sie doch das letzte Fünkchen Hoffnung auf sozialen Schutz und menschliche Würde.
Schottland sollte deshalb unabhängig werden, sich den anderen Ländern der EU anschließen und selbst über seine Zukunft entscheiden, wo auch immer die dann hinführt.
Wir sollten nicht von Premierministern regiert werden, die wir nicht gewählt haben und die unsere Nation nur als eine problematische Region ansehen.
Trotzdem bin ich kein bedingungsloser Anhänger der SNP, ich finde, sie könnte fortschrittlicher sein. Vor zwei Jahren hatte sie fast das ganze Land hinter sich, die Mehrheit beider Seiten in der Unabhängigkeitsdebatte, aber sie haben nur sehr wenig aus dieser einmaligen Chance gemacht.
Denis Meehan, 14, ist Schüler und lebt in Edinburgh. Das Lied, das seiner Meinung nach am besten zur politischen Stimmung passt, ist „Liar Liar“ von Captain Ska. Es ist von 2010, wurde jetzt aber neu aufgenommen. „Liar“, also Lügner, bezieht sich auf Theresa May.
Die Gespräche haben geführt: Ralf Sotscheck, Daniel Zylbersztajn, Viktoria Morasch und Kersten Augustin.
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