Größter Justizirrtum Großbritanniens: Hoffen auf Gerechtigkeit
Über 700 Postmanager wurden der Geldunterschlagung verdächtigt. Ein fehlerhaftes Computerprogramm war daran schuld.
Wie auch in Deutschland wurden die Postämter in Großbritannien zwischen 2013 und 2015 privatisiert. Ihre Zuständigkeit ging weit über Brief- und Paketversand hinaus. Bis heute kann man hier z.B. Stromrechnungen bezahlen oder auch Pässe und Führerscheine beantragen. Auch Renten- Pflege- und Arbeitslosengelder werden hier Woche für Woche ausgezahlt. Dazu gibt es Angebot an Schreibwaren und Zeitungen.
1999 aber war es mit dem guten Ruf dieser Postoffice-Submaster, wie die Postmanager im Englischen genannt werden, vorbei. Plötzlich galten sie als Gauner und Diebe, die angeblich versuchten, sich durch ihre Stellung zu bereichern. Denn zunehmend verschwanden große Geldbeträge in den Postämtern. Und verdächtigt wurden selbstverständlich zuerst die Postmanager.
Über 700 Verurteilungen, Privatinsolvenzen, Suizide
Mehr als 700 von ihnen wurden angezeigt und verurteilt. Zahlreiche von ihnen verloren dadurch sogar ihre Bleibe oder mussten Privatinsolvenz anmelden, so hoch waren die verschollenen Beträge.
Viele der Manager verstanden nicht, was da geschah, doch sie hatten ihre Vermutungen. Denn diese Vorgängen begannen, als die Royal Mail vor mehr als 20 Jahren ein neues IT-Programm namens Horizon einführte, dass extra für die britischen Postämter vom japanischen Großunternehmen Fujitsu entwickelt worden war. Eine kleine PC-Fachzeitschrift namens Computer Weekly begann bereits 2009 zu berichten, dass das Horizon-System ihnen nicht ganz koscher vorkam. Die Journalisten blieben an der Geschichte dran und machten ihre Vermutungen immer wieder öffentlich.
Doch es sollte sehr lange dauern, bis man ihren Warnungen Glauben schenkte und den geschassten Manager:innen glauben wollte. Für viele war es ein langer, mühsamer Weg zur Gerechtigkeit. Einige hatten sich aus Scham wegen der Vorwürfe selber das Leben genommen. Andere versuchten, Die Royal Mail wollte ihren Manager:innen langen keinen Glauben schenken. Auch verantwortliche Politiker:innen nahmen das Thema lange nicht ernst genug. Etwas, das heute diesen Verantwortlichen, darunter Ed Davey, dem heutigen Parteichef der Liberaldemokrat:innen, vorgeworfen wird.
Größter Justizirrtum in der britischen Geschichte
Doch inzwischen ist klar, dass es nicht etwa die Postmanager:innen waren, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen. Schuld war vielmehr ein Fehler im System von Fujitsu. Der Skandal wird heute als der größte Justizirrtum in der britischen Geschichte gehandelt. So kam es auch zu einer öffentlichen Untersuchung, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist.
Die wichtigsten Fragen dabei sind die nach einer adäquaten Entschädigung der Betroffenen und nach dem Zeitpunkt, ab dem der Royal Mail klar wurde, dass hier ein Systemfehler vorlag.
Die Auszahlung der Entschädigungssummen lief bisher viel zu langsam. Bis jetzt hat die britische Regierung erst 138 Millionen Pfund (etwa 160 Millionen Euro) Schadensersatz an über 2700 Kläger:innen ausgezahlt.
TV-Serie zu Weihnachten macht Tragödie landesweit publik
Trotz der dazu erschienen Enthüllungen in Zeitungen und TV-Dokumentationen scheint erst eine TV-Serie nach Weihnachten den Brit:innen die persönlichen Aspekte der Tragödie wirklich vor Augen geführt zu haben. Das Schicksal der Postmanager wurde so zum Thema Nummer eins der britischen Innenpolitik. Bisher wurden nur 93 der über 700 verurteilten Manager für unschuldig erklärt, nur 30 von ihnen sahen ihre Klage auf Entschädigung als erfüllt und beendet.
Am Mittwoch verkündete die britische Regierung, man werde umgehend alle Betroffenen entschädigen, dafür stünden mehr als eine Milliarde Pfund bereit. Zusätzlich werde ein Gesetz verabschiedet, das die Unschuld der Verurteilten bestätige. Die Tatsache, dass einige wenige von ihnen eventuell tatsächlich unehrliche Menschen seien, die von der Gesetzgebung profitieren könnten, werde man zugunsten der Mehrheit der zu Unrecht Beschuldigten in Kauf nehmen.
Viele Fragen bleiben bislang offen
Allerdings bleiben Fragen offen. Das Horizon-Programm von Fujitsu läuft – in korrigierter Form – weiterhin in den Postdienststellen. Fujitsu macht damit also weiterhin Gewinn. Da die Software mittlerweile jedoch veraltet ist, soll möglichst bald ein neues System eingeführt werden.
Von Fujitsu erstellte Programme laufen jedoch nicht nur bei der Royal Mail, sondern auch in anderen Regierungsämtern. Viele Brit:innen meinen, dass sich Fujitsu das Recht auf weitere Geschäfte verspielt hat. Paula Vennels, Geschäftsführerin der Royal Mail zwischen 2012 und 2019, hat inzwischen nach immer lauter werdenden Protesten versprochen, ihren Verdienstorden zurückzugeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken