Griechenlands Gesundheitswesen: Kein Piks, kein Job, kein Geld
Im griechischen Gesundheitssystem herrscht Impfzwang. Für Angestellte, die sich nicht impfen lassen, hat das drastische Konsequenzen.
Despina Tsaousidou ist Krankenpflegerin, schon seit 18 Jahren. Seit sechs Monaten arbeitet sie in der Notaufnahme im öffentlichen Großkrankenhaus im südwestlichen Athener Arbeitervorort Nikäa. Normalerweise. Aber seit ein paar Wochen darf sie das nicht mehr. Der Grund dafür: Sie ist nicht gegen das Coronavirus geimpft.
Ihr Vorgesetzter habe sie am Arbeitsplatz aufgesucht, erzählt sie. „Er sagte mir: ‚Despina, du wirst suspendiert, falls du dich jetzt nicht impfen lässt.‘ Ich habe ihn sofort gefragt: ‚Erpressen Sie mich?‘ Er antwortete mir: ‚Nein, natürlich nicht. Aber du musst dich impfen lassen, Despina.‘ Ich fragte ihn: ‚Können Sie mir garantieren, dass mir nichts passiert? Ich bin eine alleinerziehende Mutter, habe ein Kind.‘ “
Für die Krankenpflegerin Despina Tsaousidou ist die Sache klar: Sie lässt sich nicht impfen. „Über meinen Körper bestimme ich. Sonst niemand“, sagt sie. „Das ist nicht verhandelbar.“ Das hat schwerwiegende Folgen für sie.
Wer sich impfen lässt, darf sofort zurück
Die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis geht als eines von mehreren europäischen Ländern hart gegen das ungeimpfte Gesundheitspersonal in Griechenland vor. Sie beschloss im Juli ein Gesetz, das die Impfung gegen das Coronavirus für die Ärzte, Krankenpfleger, Verwaltungsangestellte sowie sonstiges Personal im Gesundheitssektor „aus zwingenden Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit obligatorisch“ macht. Ungeimpft dürfen sie seit dem Stichtag 1. September nicht mehr arbeiten – obgleich sie Vollbeamte sind.
Zudem erhält das suspendierte Personal kein Gehalt mehr. Wer suspendiert ist, kann sich nicht einmal arbeitslos melden, um in seiner Not Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Solange die Suspendierung andauert, zählt diese Zeit obendrein nicht für die Rente.
Wer sich impfen lässt, der darf sofort auf seinen Arbeitsplatz zurück. Nur ein Piks reicht.
In Griechenland ist so ein Umgang einmalig. Griechischen Beamten, die vom Dienst freigestellt werden, steht eigentlich per Gesetz die Hälfte ihrer regulären Bezüge zu.
Der Gesundheitsminister bleibt hart
Dennoch: Laut offiziellen Angaben beharrten per 1. September genau 6.412 Beschäftigte in Krankenhäusern und Gesundheitszentren sowie 500 Beschäftigte im Rettungsdienst EKAB darauf, sich nicht impfen zu lassen. Das entspricht einem Anteil von etwa sechs Prozent aller Beschäftigten im griechischen Gesundheitssektor.
Gesundheitsminister Thanos Plevris, ein strammer Rechtsaußen in der Regierungspartei Nea Dimokratia (ND), bleibt jedenfalls hart. Er sagt: „So wie ein Arzt in einer Krebsklinik das Recht hat, sich nicht impfen zu lassen, so hat ein Patient das Recht darauf, sich nur von einem geimpften Arzt behandeln zu lassen.“
Eine Kampfansage für die geschassten Gesundheitsangestellten. Fast täglich finden in Athen, Thessaloniki, Larissa und anderswo in Griechenland Demonstrationen statt. Wie just an jenem regnerischen Oktobertag vor Griechenlands Oberstem Verwaltungsgericht. Gleich mehrere Anträge gegen den Impfzwang verhandelt das Gericht, während Krankenpflegerin Despina Tsaousidou vor dem Gebäude protestiert.
Im Regen steht auch Dimitris Efthymiadis, 58, ein suspendierter Chefarzt vom Rettungsdienst EKAB. So hat er auf sein ohnehin nicht üppiges Monatsgehalt in Höhe von genau 1.924,42 Euro netto zu verzichten. „Ich kann meinen Patienten nicht mehr helfen. Wieso?“, fragt er.
„Wir wollen keine Versuchskaninchen sein“
Zisis Delichas, 43, Nuklearmediziner von der renommierten Athener Geburtsklinik „Alexandra“, muss fortan ohne sein Gehalt in Höhe von 1.200 Euro netto mit seiner Frau und einem Kind in der teuren Metropole Athen über die Runden kommen. Doch auch er wolle sich dem Impfzwang nicht beugen, beteuert er.
Die Ungeimpften im Kittel stellen klar, sie seien keine generellen Impfgegner. Dimitris Efthymiadis, der EKAB-Chefarzt, sagt: „Wir sind Mediziner, Wissenschaftler. Wie könnten wir gegen den wissenschaftlichen Fortschritt sein?“
Die Corona-Impfstoffe sehen sie jedoch zumindest kritisch, erklären hier alle. Das Argument, wonach die in der EU zugelassenen Impfstoffe seit deren Markteinführung im Dezember 2020 bereits zigmillionenfach verabreicht und so schon hinreichend erprobt worden seien, lassen sie so nicht gelten.
Ihr Gegenargument: Alle Corona-Impfstoffe in der EU hätten bisher nur eine bedingte Zulassung, in der lediglich nachzuweisen sei, dass der Nutzen des Impfstoffs die Risiken nach derzeitigem Kenntnisstand überwiege. Das reicht den Impfunwilligen im weißen Kittel nicht. „Wir wollen keine Versuchskaninchen sein!“, hört man von ihnen immer wieder.
Die Krankenhäuser spüren den Wegfall der Mitarbeiter
Der Knackpunkt aus ihrer Sicht: Die Impfstoffe hätten ab der Verabreichung nicht nur zeitnah wenigstens Verdachtsfälle von Nebenwirkungen, die in Griechenland entweder gar nicht oder nur lückenhaft dokumentiert würden, wie sie persönlich bestätigen könnten. Mögliche Langzeitfolgen der Impfstoffe seien zudem noch gar nicht absehbar, da seit den ersten Verabreichungen in der EU im Dezember 2020 noch nicht einmal ein Jahr verstrichen sei.
In der Wissenschaft ist der Konsens aber ein anderer: „Was man bei Impfungen unter Langzeitfolgen versteht, sind Nebenwirkungen, die zwar innerhalb von wenigen Wochen nach der Impfung auftreten, die aber so selten sind, dass es manchmal Jahre braucht, bis man sie mit der Impfung in Zusammenhang gebracht hat“, sagte Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie kürzlich der Deutschen Presse-Agentur. Da die Covid-Impfstoffe inzwischen weltweit mehr als 6 Milliarden Mal verabreicht wurden, wisse man über seltene Nebenwirkungen gut Bescheid.
Für die Protestierenden in Athen ist aber klar: Ob Impfung oder nicht, das muss bei jedem Menschen einzeln abgewogen werden. Sie beteuern, sich ständig testen lassen zu wollen, die Schutzmaßnahmen penibel einzuhalten. So wie seit Ausbruch der Pandemie.
Auch wenn das ungeimpfte Personal eine Minderheit ist – für die Krankenhäuser ist der Wegfall der Mitarbeiter spürbar. Das stellt Michalis Jannakos fest, der Chefgewerkschafter für das Gesundheitspersonal an Griechenlands öffentlichen Krankenhäusern. Jannakos ist ein erklärter Impfbefürworter. Immer wieder betont er, er habe sich als einer der ersten im Gesundheitssektor impfen lassen, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Erst kürzlich habe er sich auch die Booster-Impfung abgeholt.
64,8 Prozent der Griechen für die Impfpflicht
Dennoch ist er gegen den Impfzwang. Ein „akuter Personalmangel“ herrsche im Gesundheitssektor nach dem chronischen Sparkurs, klagt Jannakos im Gespräch mit der taz. Zehntausende Stellen seien unbesetzt. Er plädiert für regelmäßige Tests, dazu Schutzmaßnahmen, damit das suspendierte Personal zurückkomme.
Das sieht die Mehrheit der Griechen anders: Laut einer im Juni veröffentlichten Umfrage des Athener Meinungsforschungsinstituts Marc sprachen sich 64,8 Prozent der Befragten für eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen aus, 32,6 Prozent waren dagegen.
Und wie geht es in der heiklen Sache weiter? Das entsprechende Gesetz sieht im entscheidenden Artikel 206 auch vor, dass „dessen Anwendung bis zum 31. Oktober 2021 überprüft“ werde. Nun steht fest: Minister Plevris rückt in Sachen Impfpflicht für das Gesundheitspersonal nicht von seinem Kurs ab. Er verlängere die Suspendierungen bis zum 31. Dezember, um weitere 60 Tage, gab Plevris am Dienstag bekannt. Erst dann werde die Sache erneut geprüft.
Das suspendierte Gesundheitspersonal will sich nicht beugen: Tausende demonstrierten wieder vor den Toren des Athener Gesundheitsministeriums. Ihre Wut wächst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“