Grenzfluss zwischen Estland und Russland: Der Wind bringt Sowjetschlager
Der Fluss Narwa trennt Estland und Russland voneinander. Entsprechend unterschiedlich wird an beiden Ufern der „Tag des Sieges“ begangen. Ein Besuch.
Dieses Misstrauen gegenüber der russischsprachigen Minderheit richtet sich vor allem auf die Grenzstadt Narwa. Hier verdichtet sich das Zeitgeschehen. Mit 90 Prozent hat die 56.000-Einwohner-Stadt den größten Anteil an russischsprachigen Menschen in der EU. Nur der gleichnamige Fluss Narwa trennt sie von ihrer russischen Zwillingsstadt Iwangorod. Zwei gewaltige mittelalterliche Festungen erheben sich auf beiden Seiten. Nur die Niemandslandbrücke verbindet sie und vervollständigt das Bild der ultimativen Grenzstadt.
Auf dem jenseitigen Ufer wurden dieses Jahr zum 9. Mai zum ersten Mal eine große Bühne und eine Leinwand aufgebaut, beide eindeutig nach Estland gerichtet. Der Subtext: Das hier geht an unsere unterdrückten Landsleute in der Europäischen Union.
Die Stadtverwaltung in Narwa hat im Gegenzug an der Festungsmauer ein großes Plakat aufgehängt, das einen blutverschmierten russischen Präsidenten zeigt: „Putin, War Criminal“. Dieser Kontrast lässt den Kitsch auf der anderen Seite noch kitschiger wirken. Auf der Leinwand in Iwangorod laufen alte Propagandafilme, auf der Bühne führen gelegentlich ein paar Leute eine kuriose Tanzchoreografie auf. Den ganzen Tag dröhnen Filmdialoge und Musik, überlagern sich zum Teil zum unerträglichen Lärm. Am Vormittag, sagt ein anderer Journalisten-Kollege, hätten sich auf Anfrage von russischer Seite die Grenzsoldaten beider Länder in der Mitte der Brücke getroffen. Die Russen hätten gefordert, dass man das Anti-Putin-Plakat sofort abnehmen solle, die Esten hätten sich natürlich geweigert und man sei wieder auseinandergegangen. Alles zum immer wieder unerträglichen Lärm von Filmdialogen und Musik, die sich immer wieder überlagern.
„Diese komische Show interessiert hier keinen“
Andrej, 35, sonnengebräuntes Grinsen hinter der schnellen Sonnenbrille, findet das alles ganz toll, es fühle sich an wie sein Geburtstag. Später am Abend wird er sich zusammen mit seiner Mutter die große Show ansehen – Livemusik soll es da geben und eine Übertragung der Parade in Moskau. Er ist in Sankt Petersburg geboren und hat inzwischen die estnische Staatsbürgerschaft. Gefragt nach dem Plakat an der Festung sagt er: „Das Plakat ist eine Lüge, Putin ist ein guter Mann!“ Jeder hier in Narwa denke so, erklärt Andrej.
Das sehen Maria, 15, und Martin, 17, russischsprachige Est:innen, anders: „Diese komische Show interessiert hier keinen. Uns auf keinen Fall.“ Bis maximal 150 Menschen, vor allem ältere, kommen später zusammen, wenn die Liveübertragung beginnt. Vladislav, 27, ist sich sicher: „Die wenigen, die heute ihrer Sowjetnostalgie frönen oder sogar Putin unterstützen, würden niemals zu Russland gehören wollen. Sie wissen es: In der EU zu leben hat Vorteile.“ Alle drei sehen sich eindeutig als Est:innen.
Mittlerweile fängt auf der anderen Seite eine durchaus aufwendige Show mit Statisten in alten Sowjet-Uniformen und Trachten an, hier und da wird am diesseitigen Ufer Wodka ausgepackt. Ein paar klatschen und grölen zur russischen Seite hinüber, als sie über Lautsprecher offiziell begrüßt werden und ihnen ein fröhlicher Tag des Sieges gewünscht wird. Es ist hier jetzt doch ziemlich voll geworden, während am russischen Ufer deutlich weniger Zuschauer zu sein scheinen. Auf estnischer Seite patrouilliert immer mehr schwer ausgerüsteter Polizei.
Symbole und Äußerungen, die eine Unterstützung Putins und seines Angriffskriegs darstellen, sind verboten worden. Ein paar wenige junge Menschen, die sich, wie Eva, 23, mit Ukraine-Fahnen an die Uferpromenade gewagt haben, werden immer wieder angepöbelt. „Es ist absurd, was hier passiert! Gerade eben hat einer der Sänger aufgefordert, den Gefallenen russischen Soldaten in der Ukraine zu gedenken, ein anderer hat was von „Putin, mein Präsident“ geredet,“ sagt sie. Dann: „Russland ist das beste Land der Welt!“ Jedes Mal haben nicht wenige der mittlerweile grob geschätzten 2000 gejubelt. „Die Hirne der Leute hier sind seit Jahren von der Fernsehpropaganda aus Russland weichgekocht worden.“ Zwar ist seit gut einem Jahr russisches Fernsehen in Estland verboten, aber viele umgehen das mit Satellitenschüsseln.
Aber unabhängig davon, ob diese Jubler heute am Ufer der Narva gemessen an der gesamten russischsprachigen Bevölkerung nur wenige sein mögen – das Kalkül der russischen Propaganda ist sicher zum Teil aufgegangen, wenn das Ziel war, Uneinigkeit, Vorurteile und Misstrauen in Estland zu vermehren. Als das Licht abendlicher wird und die ersten Familien das Ufer verlassen, seufzt David, der Journalisten-Kollege: „Was mich heute besonders gewundert hat, war, wie ernst und angespannt alle waren.“ Vor dem Ukraine-Krieg sei der 9. Mai immer ein Freudenfest gewesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus