Graphic Novel über erste Filmregisseurin: Alice in Movieland
Lange galt sie als vergessen: Alice Guy war die erste weibliche Filmpionierin. Ein Comic widmet sich nun der Französin und ihrer visionären Kunst.
Erst wenige Monate zuvor hatten die Brüder Lumière mit ersten Vorführungen Aufsehen erregt, ihre Filme hatten aber überwiegend dokumentarischen Charakter. „Die Kohlfee“ dagegen gilt als einer der ersten rein fiktionalen Filme. Kaum bekannt ist, dass eine Frau Regie führte: Alice Guy hieß die 1873 geborene französische Filmpionierin. In ihren Einaktern erzählte sie unzählige originelle, meist witzige Geschichten, die manchmal auf Literaturvorlagen basierten. Von 1896 bis 1920 war sie höchst erfolgreich als Studioleiterin, Regisseurin, Autorin und Produzentin tätig.
Jetzt erzählt eine Graphic Novel die Biografie der ersten Filmregisseurin: „Alice Guy“ geschrieben vom französischen Autor José-Louis Bocquet, gezeichnet von der Illustratorin Catel (Muller). Gemeinsam kreierte das Duo bereits mehrere Comic-Biografien ungewöhnlicher Frauen, darunter Josephine Baker oder Olympe de Gouges. Der sich auf 400 Seiten erstreckende Band zeichnet das gesamte Leben der Pionierin in historisierenden schwarzweißen Zeichnungen akribisch nach.
Ausloten des Möglichen
Guys Karriere beginnt 1894 als Sekretärin im Pariser Fotoatelier Richard, wo sie den späteren Filmproduzenten und Konzernchef Léon Gaumont kennenlernt, und Kontakte zu den diversen Erfindern von Filmapparaten knüpft. Oft wirft Guy frühfeministische Diskurse in ihren Werken auf, thematisiert auf humorvolle Weise die gelebten Geschlechterverhältnisse. So lässt sie in einer Szene etwa die Frau den aktiven Part in Liebesdingen einnehmen, für damalige Verhältnisse eine höchst ungewöhnliche Sicht.
Guys Filme loten die erzählerischen und technischen Möglichkeiten aus und tragen zum Erfolg der expandierenden Gaumontstudios bei, sodass Guy auch den ersten Historienfilm (1899, mit der sensationellen Länge von 35 Minuten!) drehen kann. „La vie du Christ“ begeistert mit aufwendigen Kulissen und hunderten Statisten. Früh experimentiert sie an Phono-Szenen, die Filmbilder mit Schallplattenton synchronisieren und dreht 1905 das erste Making-of eines dieser Filme.
„Be Natural“ war ihr fortschrittliches Credo beim Inszenieren – die Akteure sollten natürlich spielen und weniger theatralisch, wie es damals sonst üblich war. In den USA gründet sie lange vor Entstehung der Hollywood-Studios die Produktionsfirma Solax, mittels der sie sich unter anderem mit sozialkritischen Themen befasst, Western produziert und aufwändige Stuntszenen durchführen lässt.
Heldinnen, was sonst
Ihr Trademark sind Frauen, die sie in starken Heldinnenrollen inszeniert. Als ein Affront im damaligen Amerika der Rassentrennung galt ihr 1912 erschienener Film „A Fool and His Money“, den sie – was damals Mut erforderte – erstmals mit einem ausschließlich afroamerikanischen Cast besetzte, anstatt, wie damals üblich, weiße Darsteller mit geschwärzten Gesichtern (Blackfacing) zu nehmen.
Alice Guy, die 1968 in den USA verstarb, war, von seltenen Einträgen in Filmlexika abgesehen, lange vergessen, ihre Filme verschollen. Ihr Talent und ihre Leistungen, so arbeitet der Comic heraus, wurden oft bewusst von männlichen Kollegen, dem eigenen Ehemann Herbert Blaché und beruflichen Partnern wie Léon Gaumont unterschlagen: Sie gönnten einer Frau nicht den Ruhm. Erst nach ihrem Tod wurde sie allmählich wiederentdeckt, ihre Autobiografie posthum veröffentlicht und ihre Karriere in Dokumentarfilmen nachgezeichnet.
José-Louis Bocquet (Text) Catel Muller (Zeichnungen): „Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt“. Übersetzung aus dem Französischen: Antje Riley. Splitter Verlag, HC, schwarzweiß, 400 Seiten, 45 Euro
Auch wenn sich die Graphic Novel manchmal in Details verliert und die Zeichnerin einige Mühen hat, ihren leicht naiv wirkenden Figuren Tiefe zu verleihen, werden doch die wichtigsten Aspekte der Karriere von Alice Guy gut veranschaulicht.
Catel lässt die Zeit der ausgehenden Belle Époque in ihren mit kräftigem Tuschepinsel gezeichneten Panels wiederauferstehen und zeigt, mit wie viel Improvisation in den Filmateliers die ersten Filme entstanden. Der Band macht deutlich: Alice Guys Name sollte endlich den ihr gebührenden Platz neben den bekannten Größen der frühen Filmgeschichte bekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!