Gräbersuche in Halifax: Hotspot der "Titanic"-Touristen
Am 14. April 1912 ging der Ozeanriese unter. Und mit ihm ein Abziehbild der damaligen Klassengesellschaft. Im kanadischen Halifax sind viele Opfer begraben.
Täglich halten Doppeldeckerbusse vor dem Fairview Lawn Cemetery in Halifax. Dass ein Friedhof zu einer der größten Touristenattraktionen einer Stadt wird, passiert eher selten. In Halifax aber ist das der Fall. In der kanadischen Hafenmetropole liegen weltweit die meisten geborgenen "Titanic"-Opfer begraben.
Zum 100. Jahrestag der Schiffskatastrophe wird der Besucherstrom wieder anschwellen. Obwohl die vielen geplanten Veranstaltungen, Workshops und Ausstellungen allesamt in Halifax als eine Art große Andacht gehandelt werden, wird der Jahrestag auch einen Menge Geld in die Kassen spülen. Kommerz und Gedenken gehen dabei Hand in Hand.
Diesem Phänomen menschliche Gestalt gibt Touristenführer Glenn Taylor, der mit seinen zahlenden Gästen auf dem Fairview Lawn Cemetery angekommen ist und vor einer Reihe einheitlicher Grabsteine halt macht, die wie graue Zähne aus dem saftig grünen Gras hervorstechen. Die Andächtigkeit gelingt dem Guide ganz gut dafür, dass er seine Geschichten zu den oft zur größten Schiffstragödie stilisierten Geschehnissen in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 schon zum x-ten Mal erzählt.
Maritime Museum of the Atlantic mit Dauerausstellung zur "Titanic". (museum.gov.ns.ca/mmanew/en/home/whattoseedo/Titanic/default.aspx). Noch bis 2. Juli zeigt das Museum eine Fotoinstallation der "Titanic"-Gräber von Andrew Danson Danushevsky unter dem Titel "An Earnest Price: 150 Grave Stories from Halifax".
Geschichte Das Bedford Institute for Oceanography (www.bio.gc.ca) vermittelt Besuchern, wie das Wrack der "Titanic" in 3.800 Metern Tiefe heute aussieht.
Internet Virtuelle "Titanic"-Ausstellung: www.gov.ns.ca/nsarm/virtual/titanic
Reisetipps zu Halifax www.destinationhalifax.com, www.novascotia.com
Die Reise nach Halifax fand mit Unterstützung der Canadian Tourism Commission CTC statt.
Auf dem Friedhof liegen die meisten der geborgenen Opfer der Schiffskatastrophe begraben, 121 Ertrunkene. Noch zwei andere Friedhöfe gibt es in Halifax, auf denen 29 weitere Opfer unter die Erde gebracht wurden, der Mount Olivet Cemetery und der jüdische Baron de Hirsch Cemetery. "Nicht in New York, dem Ziel der Jungfernfahrt, sondern in Halifax endete die Reise", kommentiert einer der Touristen.
Ein Engel für die dritte Klasse
Taylor dämpft die Stimme, faltet die Hände vor dem dicken Bauch und klingt fast schon pastoral, als er immer wieder sagt: "Ich möchte Sie noch einer anderen Person vorstellen." Zu Helden erklärt er etwa John Law Hume, Violinist der Schiffsband, die auf der sinkenden "Titanic" noch gespielt haben soll, als selbst die Lichter ausgingen. Oder William Denton Cox, Steward: "Er begab sich zweimal herunter in die tief im Schiff verborgenen Kabinen der dritten Klasse, um Menschen hochzuholen und in die Rettungsboote zu verfrachten. Dass die Besatzung nur ihre eigene Haut retten wollte, dieses Gerücht stimmt einfach nicht."
Nachdem die "Titanic" gegen 23.40 Uhr am 14. April 1912 einen Eisberg gerammt hatte, vergingen 2 Stunden und 40 Minuten, bis sich der dunkle Wasserspiegel für immer über ihr schloss. Viele der Rettungsboote blieben unterbesetzt. Vielen kam erst zu spät die Erkenntnis, dass dieses Prachtwerk des modernen Schiffsbaus, das als unsinkbar galt, doch verletzlich sein könnte. Zudem herrschte an Bord eine ausgesprochene Partystimmung.
"Stellen Sie sich vor: Es war eine klare Nacht, das Wasser eiskalt. Warum sollte ich von einem unsinkbaren Schiff in eine kleine Nussschale von Rettungsboot steigen und in das schwarze Nichts rudern?", sagt Taylor. Wohl erst als sich der Bug unter der Last des eindringenden Wasser schon in die eisigen Fluten senkte brach Panik aus. Taylors Zuhörer sind mucksmäuschenstill und blicken aufs Gras - als ob sie beteten.
Nur 710 der insgesamt 2.228 Menschen an Bord des damals größten Passagierschiffs der Welt überlebten und konnten später von der heraneilenden "RMS Carpathia" aufgenommen werden. Und es bildeten sich in 100 Jahren viele Mythen rund um die "Titanic". So gehört ins Reich der Legenden, dass der Kapitän der "Titanic", Edward Smith, das "Blaue Band", eine Auszeichnung für die schnellste Atlantiküberquerung, ergattern wollte und deshalb durch das kalte Meer pflügen ließ. Schnell fuhr die "Titanic", um dem Ruf der White Star Line gerecht zu werden: Der bestand in äußerster Pünktlichkeit.
Von einem anderen Missverständnis berichtet Taylor: "Ich wollte den beiden College-Mädchen nicht noch einmal das Herz brechen und die Wahrheit erzählen." Der Guide hat sich neben den Grabstein mit der Gravur "J. Dawson" gestellt: "Regisseur James Cameron fand, Dawson - das klingt gut, lass ihn uns Jack Dawson nennen'. Und schon hatte der Hauptdarsteller für Camerons Film ,Titanic' einen Namen." Doch nicht das filmische Vorbild liegt dort begraben, sondern Joseph Dawson, "und der schippt im Bauch der Titanic Kohlen. Den weinenden College-Mädchen am Grabstein konnte ich das unmöglich offenbaren."
Letztes Geleit fürs „unbekannte Kind“
Als der Blockbuster 1997 in die Kinos kam, begann für die Friedhofswärter ein neuer Arbeitsalltag. Täglich mussten sie tonnenweise Plüschtiere, Blumen, Spielzeug und Liebesbriefe wegkarren, um J. Dawsons Grabstein wieder und wieder freizulegen. Jack Dawson, gespielt von Leonardo DiCaprio - davon wurde ein Millionenpublikum auf Kinosesseln Zeuge - schied, geklammert an eine Holzplanke, in eiskaltem Wasser aus dem Leben. Der Fairview Lawn Cemetery wurde zur Pilgerstätte für eine Trauer unter falschen Vorzeichen.
Doch vor 100 Jahren wurde Halifax Zeuge des "Titanic"-Leids wie keine andere Stadt: "Halifax, das war der nächste Festlandhafen zur Untergangsstelle, deshalb wurde alles von hier aus organisiert." Alan Ruffman ist Geologe und vermisst im Hauptberuf den Meeresboden. Er war in den Achtzigern an einer erfolglosen Suchaktion nach dem Wrack des einstigen Luxusliners beteiligt.
Auf der Mayflower Curling-Eisbahn wurden viele der insgesamt 328 Geborgenen, von denen 209 an Bord der "CS Mackay-Bennett" nach Halifax kamen, aufgebahrt, nummeriert, fotografiert und zu Zwecken der Identifikation auf Tätowierungen, Narben oder Schmuck untersucht, sagt Ruffman. Andere wurden seebestattet.
Das Kabelschiff hatte die White Star Line für die Bergungsaktion gechartert. Die Eisbahn steht heute nicht mehr, sie wurde bei einer anderen Tragödie in der Geschichte der Stadt, der Halifax-Explosion, 1917 zerstört.
Die Kirchen, in denen Gedenkgottesdienste abgehalten wurden, können dagegen noch besucht werden. In der ältesten protestantischen Kirche Kanadas, der Saint Pauls Church in der Argyle Street, wurde am 21. April 1912 ein Gedenkgottesdienst abgehalten, ein anderer für katholische Opfer in der Saint Marys Basilica. Die vielleicht traurigste Gedenkfeier aber wurde in der St. Georges Round Church veranstaltet.
In dem hölzernen Rundbau fand sich die Besatzung der "Mackay-Bennett" ein, um dem "unknown child", dem unbekannten Kind, das letzte Geleit zu geben. Die Crew hatte den Jungen, dessen Alter zunächst auf 9 bis 15 Monate geschätzt wurde, als eines der wenigen Kleinkinder sechs Tage nach dem Untergang ohne Rettungsweste leblos treibend aus den eisigen Fluten gezogen. Erst im Jahr 2006 wurde es mittels einer DNA-Analyse letztlich als Sidney Leslie Goodwin aus England identifiziert.
Die Habseligkeiten der Opfer schützen
Die braunen Lederschuhe des damals 19 Monate alten Jungen können heute hinter Glas in einer "Titanic"-Ausstellung im Maritime Museum of the Atlantic in Halifax betrachtet werden, wo auch ein Liegestuhl "als größtes erhaltenes Artefakt" zu sehen ist. Im Jahr 1912 nahm sie ein Polizist an sich, der dabei half, die Habseligkeiten der Opfer vor Souvenirjägern zu schützen. Dann verschwand das Schuhwerk über Jahre, bis es der Enkel des Polizisten wieder entdeckte und 2002 dem Museum stiftete.
Auch der Hotelier John Jacob Astor kam bei dem Untergang ums Leben. "Er war der reichste Mann der Welt", sagt Garry Shutlak. Mit Alan Ruffman sitzt der Mann mit der Pfeife und den gelben Zähnen im Keller einer Studentenkneipe in Halifax bei Bier und Kabeljau. Die beiden zusammen bilden so etwas wie die geballte "Titanic"-Kompetenz der Stadt. Denn auch Garry befasst sich seit Jahren mit dem "Titanic Desaster". Als Archivar bei den Nova Scotia Archives, einer Unterabteilung des Amtes für kulturelles Erbe in Halifax, stellt er erhaltenes Material der großen Rettungsaktion von 1912 online. Listen der Geborgenen und Dokumente zu ihrer Identifizierung, Briefe, historische Fotos, Visitenkarten.
"Als die Titanic unterging, wechselte die Hälfte des damaligen amerikanischen Vermögens den Besitzer." An Bord waren neben Astor, fährt Shutlack fort, auch andere steinreiche Unternehmer, darunter Benjamin Guggenheim, Entrepreneur aus Philadelphia, oder Charles Hays, Präsident der kanadischen Grand Trunk Railway. Sie alle ertranken. Nur Bruce Ismay, der Direktor der White Star Line, stahl sich in eines der Rettungsboote, obwohl galt "Frauen und Kinder zuerst". Er starb 1937.
Streit um die ewige Schuldfrage
Bei der Frage, wer Schuld hatte an dem Untergang des Ozeanriesen, kommen sich die beiden Experten fast in die Haare. "Wenn du jemandem die Schuld geben willst, dann gib sie der Funker-Crew, sie gaben die Eiswarnungen nicht an die Brücke weiter und waren nur mit den Telegrammen der Passagiere beschäftigt", sagt Shutlack. Ruffman widerspricht: "Eine Meldung erreichte sehr wohl den Kapitän, er hätte die Geschwindigkeit drosseln müssen."
Ob die Unglücksfahrt vor 100 Jahren einer einzigen Person angelastet werden kann? Dass sich der Fortgang der Dinge von Menschenhand nach Belieben gestalten ließe, dieser Fortschrittsglaube fand nach Ansicht von Museumsführer Bob Corkum mit dem Untergang der "Titanic" ein abruptes Ende: "Manche sagen: Das 20. Jahrhundert hat nicht am 1. Januar 1900 begonnen, sondern am 15. April 1912."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht