piwik no script img

Göttinger Uraufführung über ArisierungDie Namen der Nutznießer

Das Deutsche Theater in Göttingen dokumentiert detailliert die Verfolgung der jüdischen Göttinger – und wer davon in welcher Form profitierte

Lesen auf der Bühne als Archivare verkleidet Augenzeugenberichte vor: Benedikt Kauff (vorne) und seine Schauspielkollegen Foto: Thomas Aurin

Göttingen taz | Die Göttinger Goetheallee Nr. 5 beherbergt ein Matratzengeschäft. Es ist ein steriler Laden, ahistorisch ins Erdgeschoss des alten Hauses hineingeschoben. Wie überall. Für Benedikt Kauff ist die Goetheallee 5 dennoch ein emotionaler Ort geworden. „Wenn ich hier vorbeigehe, kommen mir manchmal sogar die Tränen“, sagt der junge Schauspieler.

Kauff kennt die Augenzeugenberichte über das, was am 9. November 1938 im heutigen Matratzenhaus passiert ist. Er kennt sie sogar auswendig. Ein paar Schritte weiter am Wall entlang, im Deutschen Theater, steht er auf der Bühne des großen Hauses und zitiert: „Wir waren schon zu Bett gegangen, als unten gegen die Haustür geschlagen wurde. Sie brachen die Tür auf, dann die Etagentür, und dann drangen zwölf oder noch mehr Männer in unsere Wohnung ein.“ Grete Löwenstein und die kleine Tochter werden die Treppe hinunter gejagt. Ihr Mann Ludwig mit Gewehrkolben geschlagen. Bettgestelle und Matratzen fliegen aus dem Fenster.

Fritz Krische kommen diese Vorgänge – streng ökonomisch betrachtet – gelegen: Nach der Pogromnacht wird die Auszahlung des Dumpingpreises, zu dem er den Löwensteins deren Fleischereibedarfsgeschäft bereits abgekauft hat, hinfällig. Er ist einer der vielen Nutznießer, deren Namen auf der Bühne genannt werden.

Im Zuschauerraum sitzt einer, der über diese Zusammenhänge genauestens Bescheid weiß – und über Dutzende ähnlicher Konstellationen. Dass die jetzt uraufgeführte Dokumentarcollage „Die Nutznießer – ,Arisierung' in Göttingen“ so konkret sein kann, ist der mühseligen Archivarbeit von Alex Bruns-Wüstefeld zu verdanken.

Panoptikum der zunehmenden Ausgrenzung

Mühselig nicht nur wegen der Materialfülle. Sondern weil sich Bruns-Wüstefeld, der seinerzeit der örtlichen Antifaszene angehörte, den Zugang zu den Akten des Göttinger Stadtarchivs in langwierigen Gerichtsverfahren erkämpfen musste. Das war in den 1990ern. 20 Jahre später ist das Material nun auf der Bühne. „Hätte ich nicht mit gerechnet“, sagt Bruns-Wüstefeld.

Anscheinend bedurfte es eines Anstoßes von außen: Der Schweizer Erich Sidler, seit 2014 Intendant in Göttingen, beauftragte die Berlinerin Gesine Schmidt mit einem Stück zum Thema „Arisierung“ in Göttingen. Weit über 1.000 Akten hat Schmidt durchforstet. Die, die sich Bruns-Wüstefeld im Archiv erkämpft hat. Und die ausgiebigen Augenzeugenberichte, die der Lehrer Ulrich Popplow schon zwischen 1976 und 1982 zusammengetragen hatte. Was Schmidt aus dieser Fülle formt, ist ein Panoptikum der zunehmenden Ausgrenzung, des Verlustes, respektive der Bereicherung. Ausschließlich auf O-Ton-Basis.

Aus den Lautsprechern auf der Bühne schallen rassistische Kommentare

Am stärksten ist die Montage dann, wenn die ständig wechselnden Perspektiven dasselbe Ereignis fokussieren. Etwa den Kampf der Familie Wagner gegen den Rausschmiss aus ihrer Wohnung in der Weender Landstraße und gegen den Zwangsumzug ins „Judenhaus“. Der Vermieter, Robert Schneider, drängt die Behörden immer wieder zu schnellerem „Durchgreifen“. Wagner wehrt sich, macht ebenfalls Eingaben. Doch von allen Seiten wird an der Schlinge gezogen, die der jüdischen Bevölkerung um den Hals liegt.

Die Göttinger Sparkasse gibt keine Kredite mehr – nur einzahlen dürfen ihre jüdischen Kunden noch. Einkaufen auf dem Wochenmarkt ist Juden nur zwischen 11.30 und 12 Uhr gestattet. Und nachdem in Göttingen die ersten Berichte über anstehende Deportationen durchsickern, freuen sich zahlreiche Bürger auf frei werdende Wohnungen. Das zuständige Amt registriert eine Flut von vorausschauend gestellten Anträgen.

Historisches Begreifen und das große Ganze

Schmidt war es wichtig, bei ihrer Collage auch die „Wiedergutmachungs“-Akten ein­zubeziehen. Oft ist dort von „normalen Kaufverträgen“ die Rede, die die Juden abgeschlossen hätten. Formal ist das korrekt. Man muss nur die Details beachten. Etwa den Ort des Vertragsabschlusses: die Göttinger Gestapozentrale.

„In der Schule hatte man das ,Dritte Reich‘ immer wieder in Geschichte und in Deutsch, und in noch anderen Fächern“, sagt Katharina Uhland. Zwei Stunden lang stand die Schauspielerin mit Kauff und drei weiteren Kollegen auf der Bühne, alle kostümiert als Archivare, die sich durch die Akten blättern. „Jetzt“, sagt Uhland nach der Uraufführung, „habe ich zum ersten Mal das Gefühl, wirklich etwas begriffen zu haben.“

Ihr Intendant, Erich Sidler, sieht über das historische Begreifen hinaus das Große und Ganze thematisiert. Er spricht von „Wachsamkeit“ und „Sensibilität“, die ganz aktuell und dringend erforderlich seien: Um die „rote Linie der Menschlichkeit“ nicht immer weiter zu verschieben, um „die Demokratie zu pflegen und in die Zukunft zu retten“.

Auf der Bühne gibt es auch so eine „Linie“, die sich scheinbar unaufhaltsam nach vorne schiebt. Es ist eine Wand aus Lautsprechern, aus denen „hate speech“ dringt – aktuelle rassistische Kommentare, die Regisseur Marcus Lobbes aus dem Internet gefischt hat.

Zwar sind sie so dosiert, dass der uninformierte Zuschauer unmöglich verstehen kann, welcher Gesellschaftssound da immer wieder hochkommt. Umso sinnfälliger ist dafür die näher kommende Wand, die die Akteure zusammenpfercht. Dann rutschen die ersten Boxen über den Bühnenrand, stürzen krachend ins Parterre des Theaterbaus mit seiner spezifischen Mischung aus Neorenaissancepracht und Puppenstube. Aufgeschreckt aber war das Göttinger Publikum schon zuvor.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Schade, dass Martin Walser, Jahrgang 1927 und in der NSDAP-Zentralkartei seit 1944 als Mitglied verzeichnet, nicht mitgearbeitet hat an dieser Inszenierung. Wer weiß, ob nicht auch er nachher gesagt hätte: "Jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, wirklich etwas begriffen zu haben."

     

    Womöglich wäre die Erinnerung ja zu ihm zurückgekommen während der Proben angesichts der Personifizierung einer Geschichte, die teilweise auch seine eigene ist. Und vielleicht hätte er danach weniger das Gefühl gehabt, er müsse sich gegen die "Dauerpräsentation unserer Schande wehren".

     

    Walser wollte angeblich "verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor". Ich glaube, ich kann das erklären: Die Zeit, wie man zu sagen pflegt, war einfach reif damals.

     

    Kann sein, dass die Erben derer, die als "Nutznießer" auf der Bühne benannt werden, das Deutsche Theater wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte verklagen werden. (Ich fände das in sofern verständlich, als es unangenehm ist, als Täter-Kind oder -Enkel geoutet zu werden in einer Gesellschaft, in der, wer von sich selbst ablenken will, nur mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf andere zu zeigen braucht.) Die Betroffenen selbst allerdings sind tot. Sie können nicht mehr klagen gegen ihre "Instrumentalisierung" (Walser) zwecks Volkerziehung. Das reduziert das Risiko, vermute ich.

     

    Ja, oft muss der "Anstoß von außen" kommen. Die Schweiz gilt als neutral, das Adjektiv wird gerne auf die Schweizer übertragen. Was mich ein wenig irritiert ist: Erich Siedler scheint mit zweierlei Maß zu messen. Die Namen der verantwortlichen Sparkassen-Entscheider und die Namen derer, die nach 1945 "normale Kaufverträge" sehen wollten, nennt Siedler (oder Bleyl?) ja angeblich nicht.

     

    So weit "außen", dass sie's sich mit jedem verscherzen können, stehen vielleicht nicht mal die Schweizer. Nicht, wenn sie auch morgen noch in Göttingen inszenieren wollen.