Globaler „Game Jam“: Game Over? Restart!
Jedes Jahr schließen sich tausende Menschen zusammen, um Computerspiele zu entwickeln. Sie wollen Regeln brechen, um Neues zu entdecken.
Nach all den schlaflosen Stunden am Computer wird nun der Bildschirm schwarz, und darauf steht in weißer Schrift: „Our minds are funny things really“. Unser Bewusstsein ist schon etwas Schräges. Dann beginnt der Abstieg in die Träume und Erinnerungen eines Mädchens, in eine Welt aus Schwarz und Weiß, in der Monster wohnen und Worte heilen. Gleichzeitig macht sich ein betrunkener Wikinger auf die Suche nach seiner Axt. Ein riesiges Hühnchen droht das Dorf anzugreifen. Ein Roboter sucht nach verlorenen Dateien, um sie wiederherzustellen. Ein Schatten sucht seinen Besitzer.
All diese Computerspiele sind an einem einzigen Wochenende entstanden. In ihnen stecken der Wille, Regeln zu brechen und neu zu erfinden, kein Geld, dafür viel Druck. Alljährlich am letzten Januarwochenende schließen sich in allen Teilen der Welt gleichzeitig Tausende Teams aus Programmierern, Designern, Musikern und Autoren von Freitag bis Sonntag von der Welt weg, um ihre eigenen digitalen Universen zu bauen, nur so aus Spaß. Der „Global Game Jam“ ist das zentrale Event einer wachsenden Szene aus unzähligen kleinen und einigen großen solchen Events. Es ist eine Szene außerhalb kommerzieller Strukturen, die wie eine brodelnde Ursuppe unterhalb der etablierten Games-Branche existiert.
Lalanda Hruschka hat die Monster für das Spiel mit dem Mädchen in der schwarz-weißen Welt entworfen. Auch die Figur mit dem schwarzen Umhang, der die Figur bei ihren Streifzügen durch den düsteren Keller immer wieder begegnet. Erst bei Interaktionen blendet sich die simpel animierte, zweidimensionale Spielwelt aus und die Zeichnung der jeweiligen anderen Figur ein, dazu der Dialogtext – wie in der guten, alten Zeit, als Games noch auf Disketten passten. Auch das Kampfsystem ist eine nerdig-liebevolle Referenz an „Pong“, eines der ältesten Computerspiele überhaupt. Die Monster schießen niederdrückende Worte von der einen Seite des Bildschirms, man selbst, auf der anderen Seite, muss ihnen ausweichen, ermunternde Worte eintippen und die Buchstaben zurückschießen. Eine Geschichte über psychische Gesundheit mit Arcade-Mechaniken.
Hruschka ist Visual Designerin und denkt sich besonders gern Figuren für Computerspiele aus. Wie viele in der Branche ist sie Freiberuflerin. Die Herausforderung, sagt sie, sei der gemeinsame Wettlauf gegen die Zeit – „als gemeinsames Puzzle zusammenzupassen“, mit völlig Fremden. Manche sind langjährige Profis, andere haben nichts weiter dabei als ein paar Skizzen oder ein Saxofon, für den Soundtrack.
In Hruschkas sechsköpfigem Team fing es in der Nacht von Samstag auf Sonntag an, zu knirschen im Getriebe. Wenn nicht gerade Pandemie ist, leben die Teams wie Mönche in Klausur, die Nächte verbringen viele Teilnehmer in Schlafsäcken neben dem Computer. Dieses Jahr trat Hruschka am Sonntagmorgen auf ihren Balkon, wo sie ihre Decke zum Lüften vergessen hatte – sie war schneebedeckt und klatschnass. Zu diesem Zeitpunkt war schon recht klar, dass das Spiel wohl nicht fertig werden würde. Im Kanal für die Besprechungen, der das ganze Wochenende über offen war, wurde der Ton nervöser.
Gegenentwürfe zu anspruchsvollen Spielewelten
Geradezu archetypisch für den Jam ist das Spiel „Baba is you“, das 2017 auf dem Nordic Game Jam entstand – und zwei Jahre später einer der Releases des Monats auf der Spieleplattform Steam war. Fast alle Jams haben ein Thema, mit dem sich die zu entwickelnden Spiele beschäftigen müssen, das Thema damals lautete „Not there“.
Unter den Teilnehmern war auch der Entwickler Arvi Teikari. Beim Wort „not“ habe er an einen logischen Operator beim Programmieren denken müssen, erzählte er später. Plötzlich habe er ein Bild eines Eisblocks, der in Lava nicht schmilzt, vor Augen gehabt, denn: „Lava is not melt“. So erfand er ein geniales Spielprinzip: Man steuert die Figur Baba durch ein Labyrinth, in dem sich allerlei blockförmige Gegenstände und Worte befinden, die Baba verschieben kann – und weil auch die Logik der Spielwelt aus Worten bestehen, kann Baba zum Beispiel festlegen, dass er nicht mehr die Flagge erreichen muss, um das Level zu beenden („Flag is Win“), sondern einen Stein („Stone is Win“). Oder die Spielerin steuert fortan einen Stein („Rock is You“). Man muss die Regeln der Welt umschreiben, um das Rätsel zu lösen.
Solche Spiele sind auch Gegenentwürfe zu den immer opulenteren, aber auch immer weniger anspruchsvollen Spielewelten der großen Entwicklerstudios. Dort reitet man auf Drachen durch gewaltige Fantasiereiche, man bewundert, wie realistisch der der Dreck im Schützengraben spritzt, die Spielmechaniken aber – das, was im emphatischen Sinne ein Spiel erst zu einem Spiel macht – verändern sich im Blockbuster-Segment nur in Nuancen. Weil darin hohe Millionenbudgets stecken, haben die Publisher Angst, die Leute mit etwas Neuem, Gewagtem zu verschrecken. Das ist in der Filmbranche ähnlich, aber für Filme, die ohne Budget gedreht wurden, muss man schon sehr schmerzbefreit sein.
Gamer hingegen wollen oft gar keine perfekte Grafik, keine von Symphonieorchestern aufgenommenen Soundtracks, keinen Gastauftritt von Keanu Reeves. Sondern einfach nur spielen. Diese antikommerzielle Dynamik löst sich durch die zunehmende Professionalisierung der Branche nicht etwa allmählich auf. Sie wird immer stärker.
Die Szene wächst
Der Softwareentwickler Sebastian Standke, der auf seinem Blog game-curator.com regelmäßig die besten Jam-Games kuratiert, verfolgt die wachsende Szene. Im Jahr 2002 startete das „Lugdum Dare“ als ein kleiner, über ein Internetforum organisierter Wettbewerb für Hobby-Spieleentwickler, heute sind es pro Edition mehrere tausend Teilnehmer. Das habe mit neuen Plattformen wie itch.io zu tun, wo Minigames ein Publikum finden, aber auch damit, dass Spiele zu entwickeln immer einfacher werde, sagt Standke. Heute existieren viele kostenlose Gameentwickler-Tools, mit denen man schnell zu Ergebnissen kommt, mit einigen muss man kaum noch selbst programmieren können. Diese Demokratisierung, sagt Standke, habe den Fokus verschoben – vom genialen Software-Nerd, der im Keller blinkende Welten aus der Maschine zaubert, was außer ihm keiner kann, hin zu kreativen Prozessen im Team. Die Geschichten werden wichtiger. Manchmal auch: die Politik.
Als der Entwickler des Handyspiels „Candy Crush“ die Markenrechte an den Wörtern „Candy“ und „Saga“ für sich beanspruchte, rief jemand einen Jam ins Leben, dessen Vorgabe war: die Spiele müssen die Wörter „Candy“ oder „Saga“ beinhalten. Als Donald Trump an die Macht kam, entstand ein Jam-Game, in dem es darum geht, schlecht zu regieren, ohne die Welt zu zerstören, und zwischendurch zu golfen. Im Frühjahr hatte ein Team die Idee eines simplen Spionagethrillers, in dem man die geheimen Machenschaften hinter den Engpässen von Klopapier und Nudeln aufklären muss. Ab dem vergangenen März beschäftigen sich viele Jams plötzlich mit dem Thema Isolation.
Ein besonderes Projekt wurde beim „Lugdum Dare“-Jam im April entwickelt. Dort treten die fertigen Spiele zum Schluss in einem Wettbewerb gegeneinander an. „thiswebsitewillselfdestruct.com“ hat es unter knapp 5000 Einreichungen auf einen sehr respektablen 79. Platz geschafft.
Das Spiel, sofern man es so nennen will, ist eine Website, die sich selbst löscht, wenn 24 Stunden lang niemand dort eine Nachricht hinterlassen hat, „aber das ist okay“, so heißt es auf der Seite, „bis es soweit ist, lasst mich wissen, wie es euch geht“. Nun hinterlassen dort jeden Tag unzählige Menschen Nachrichten, in denen sie schildern, womit sie zu kämpfen haben, oder in denen sie andere ermuntern, an sich zu glauben, es werden bessere Zeiten kommen. Manche schreiben sinngemäß „Stirb bitte nicht, liebe Website“. Links führen zu Hilfsangeboten bei psychischen Krisen. Ein Spiel für den Lockdown. Ein Jam-Spiel: Einfach, menschlich – und das ganze Internet kann mitmachen.
Das Spiel über den Keller mit den Monstern, die man mit heilenden Worten beschießt, ist am Ende nicht fertig geworden. Lalanda Hruschkas Team hat es nicht rechtzeitig geschafft. Es bleibt, wie viele Jam-Spiele, erst mal ein Prototyp. Aber das macht nichts. Auch Jams insgesamt sind Spiele. Wer kein funktionierendes Produkt abliefert, hat lediglich das Spielziel verfehlt. Game Over. Und dann? Restart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund