Gewerkschafterin über Pflegenotstand: „Ein selbstgemachtes Problem“
Fehlendes Personal in einem Altenheim sorgte für einen Polizeieinsatz. Gisela Neunhöffer von Verdi sieht das Land Berlin in der Verantwortung.
taz: Frau Neunhöffer, vor einigen Tagen machte ein Notfall in Friedrichsfelde auf den Pflegenotstand aufmerksam. Wie sieht die Versorgung in Altenheimen in Berlin aus?
Gisela Neunhöffer: Es fehlt bundesweit an Personal, auch in Berlin. Seit 2019 haben 28 stationäre Langzeitpflegeeinrichtungen geschlossen, nur 12 haben neu eröffnet. Laut einem bundesweiten Gutachten zur Personalbemessung von 2022 fehlen schon jetzt mindestens 20.000 Vollzeitstellen, bis 2030 mindestens 51.000. Würde man mit einem ausreichenden Personalschlüssel arbeiten, bräuchte es 186.000 Pflegekräfte mehr.
Warum gibt es diesen Personalmangel in der Pflege?
stellvertretende Landesfachbereichsleitung für den Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft, mit Zuständigkeit u.a. für die Altenpflege in Berlin und Brandenburg.
Der Fachkräftemangel in der Altenpflege ist ein selbstgemachtes Problem. Jahrzehntelang ignorierte die Politik die Hilferufe der Beschäftigten. Viele haben den Beruf verlassen und hinterlassen eine große Lücke. Ein großes Thema ist der Lohn. Zwar gibt es einen Mindestlohn, der auch kontinuierlich steigt, jedoch liegt der nach dreijähriger Ausbildung ab Mai 2024 bei lediglich 19,50 Euro. Besonders die Vergütung für Nachtschichten oder Wochenende ist laut Pflegekräften zu niedrig.
In Friedrichsfelde rief eine Pflegerin am Ende ihrer Schicht die Polizei, da keine Fachkraft für die Übergabe zur Arbeit erschienen ist. Wie kann es zu so einem Notfall kommen?
Es sind so wenig Arbeitskräfte wie möglich eingeplant. Das Problem ist, dass es keine verbindlich Personalbemessung gibt, die sagt, wie viele Personen pro Schicht arbeiten müssen. Es gibt lediglich allgemeine Vorgaben zur Zahl der insgesamt zu beschäftigenden Pflegekräfte, und die sind aus unserer Sicht deutlich zu gering. Und wenn nur eine Pflegefachkraft pro Dienst anwesend sein muss, ist das zu wenig.
Wie lässt sich diese Notsituation verhindern?
In vielen Betrieben gibt es kein vernünftiges Ausfallmanagement. Schon bei der Dienstplanung muss klar sein, was passiert, wenn es keine Übergabe geben kann. In dem aktuellen Fall sollte eine Person einer Leiharbeitsfirma gerufen werden, doch das hatte nicht geklappt. Selbst wenn die Fachkraft kommt, kennt sie in den meisten Fällen das Haus nicht, was auch keine gute Lösung ist.
Was sind Alternativen?
Das Heim gehört zu einem Unternehmen mit 16 Standorten. Da kann man ein standortübergreifendes Konzept entwickeln, mit einem Pool von Springern und einer Rufbereitschaft. Das muss man entsprechend honorieren, damit Leute bereit sind, auch im Zweifel an unterschiedliche Standorte zu gehen. Man muss sie ein wenig einarbeiten, damit sie wissen, was an den Standorten zu tun ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe