Gewerkschaften zum 1. Mai: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Gewerkschaften müssen angesichts einer hohen Inflation bei den Tarifverhandlungen liefern – Erwartungen können leicht enttäuscht werden.
Ungebrochen solidarisch“ – das Motto des DGB in diesem Jahr für seine traditionellen Kundgebungen am 1. Mai bietet Interpretationsspielraum. Es lässt sich einerseits als selbstbewusste Feststellung lesen – andererseits aber auch als Aufforderung, ja möglicherweise sogar Hilferuf. So kämpferisch am Tag der Arbeit die Reden der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi in Köln oder von Verdi-Chef Frank Werneke in Frankfurt am Main auch sein werden, können sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein schwieriges Jahr ist, in dem sich die organisierte Arbeiterbewegung befindet. Ob die Gewerkschaften gestärkt oder geschwächt aus ihm hervorgehen werden, ist noch nicht ausgemacht.
Auf den ersten Blick mag eine solche Skepsis verwundern. Schließlich haben die zahlreichen Warnstreiks in den ersten Monaten dieses Jahres gezeigt, wie mobilisierungs- und kampffähig die deutschen Gewerkschaften immer noch sind. Und das hat sich für sie ausgezahlt. Allein Wernekes Verdi verzeichnet seit Jahresbeginn mehr als 70.000 neue Mitglieder.
Doch wie viele davon werden am Ende des Jahres noch dabei sein? Das wird sich daran entscheiden, für wie akzeptabel sie die mitunter ziemlich große Differenz zwischen gewerkschaftlichem Anspruch und tarifvertraglicher Wirklichkeit halten. Einen Hinweis darauf wird Verdi am 12. Mai bekommen. Dann endet die Mitgliederbefragung über den Tarifabschluss für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen.
Gerade an diesem Abschluss lässt sich anschaulich machen, in welchem Dilemma sich die Gewerkschaften derzeit befinden. Der Tarifeinigung vorausgegangen war ein monatelanger Arbeitskampf, an dem sich mehr als eine halbe Million Beschäftigte beteiligten. Höhepunkt war der eintägige Mobilitätsstreik Ende März, mit dem Verdi und die Eisenbahngewerkschaft EVG gemeinsam den öffentlichen Verkehr weitgehend stillgelegt hatten. Diese große Streikbereitschaft resultierte aus einer hohen Erwartungshaltung, nämlich dem nicht unberechtigten Anspruch, sowohl aktuelle Kaufkraftverluste zu verhindern als auch eine bereits erlittene Reallohnschrumpfung abzumildern.
Dem entsprach die Verdi-Forderung nach einer Lohnerhöhung in diesem Jahr von 10,5 Prozent, mindestens jedoch 500 Euro mehr im Monat. Herausgekommen ist deutlich weniger: Wie schon zuvor bei der Deutschen Post gibt es dieses Jahr im öffentlichen Dienst nur eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie – obwohl Verdi immer wieder wortreich bekundet hat, eine solche Sonderzahlung könne nur Ergänzung zu einer absolut unverzichtbaren Lohnerhöhung sein. Doch die kommt in Höhe von mindestens 340 Euro erst im März kommenden Jahres.
Hat Verdi schlecht verhandelt? Nein, das lässt sich nicht behaupten. Zumindest diesmal nicht. Vor drei Jahren aber leider schon, als die Gewerkschaft während der Coronapandemie einem äußerst niedrigen Tarifabschluss mit einer viel zu langen Laufzeit zustimmte. Das bescherte den Beschäftigten schon 2021 einen Reallohnverlust, obwohl damals die Inflationsrate noch weitaus niedriger lag. Als dann mit Beginn des Ukrainekriegs die Lebenshaltungskosten dramatisch anstiegen, erwies sich der Tarifvertrag von 2020 endgültig als Fiasko.
Großer Reallohnverlust
Solche Tarifabschlüsse gab es seinerzeit in zahlreichen Branchen. Das macht es den Gewerkschaften jetzt so schwer. Nach gerade veröffentlichten Berechnungen des Statistischen Bundesamts sanken insgesamt die Reallöhne in Deutschland im vergangenen Jahr um durchschnittlich 4 Prozent gegenüber 2021, einmalige Sonderzahlungen mitgerechnet. Wobei höhere Tarifverträge, die 2022 in Reaktion auf die gestiegene Inflation abgeschlossen wurden, die Bilanz aufhübschen. In etlichen Bereichen ist der Reallohnverlust also noch größer.
Das erklärt die Enttäuschung etlicher Beschäftigter, wenn jetzt das Ergebnis einer Tarifverhandlung „nur“ ist, einen weiteren Kaufkraftverlust verhindert zu haben. So kann Verdi-Chef Werneke zwar zu Recht verkünden, die „größte Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte im öffentlichen Dienst“ erreicht zu haben – und trotzdem bricht kein Jubel aus.
Eine noch härtere Bewährungsprobe steht der EVG bevor. Sie ist mit einer Rekordforderung in den Tarifstreit mit der Deutschen Bahn gegangen: Mindestens monatlich 650 Euro mehr soll es dieses Jahr geben. Entsprechend enorm ist die Fallhöhe. Die EVG hat angedroht, den Zugverkehr wochenlang lahmzulegen. Aber würde sie das tatsächlich wagen? Und wie werden die Bahnbeschäftigten reagieren, wenn letztlich ein mit den Verdi-Abschlüssen vergleichbares Ergebnis herauskommen sollte? Es ist ein schwieriges Jahr für die Gewerkschaften.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge