Gewerkschaften diskutieren über Hartz IV: Jetzt doch gegen Zwang

DGB-Chef Hoffmann übt den Schulterschluss mit dem Ver.di-Kollegen Bsirske: Nun treten beide für eine sanktionsfreie Mindestsicherung ein.

Frank Bsirske und Reiner Hoffmann sitzen nebeneinander hinter einem Tisch,im Vordergrund die Hinteransicht eines stehenden Fotografen

Demonstrierten Einigkeit: Frank Bsirske und Reiner Hoffmann in der Bundespressekonferenz Foto: dpa

BERLIN taz | In der Diskussion über eine Transformation von Hartz IV scheinen sich die gewerkschaftlichen Reihen wieder zu schließen. Bei einem gemeinsamen Auftritt am Donnerstag in Berlin übten der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und Ver.di-Chef Frank Bsirske den Schulterschluss. Beide würden für eine sanktionsfreie Mindestsicherung eintreten. „Ja, das war auch immer so“, versicherte Hoffmann.

Damit reagierte Deutschlands oberster Gewerkschafter auf heftige Irritationen, die er mit einem Interview am vergangenen Wochenende ausgelöst hatte. Ob es gutgehen könne, dass die Grünen das Hartz-System reformieren wollten, „indem sie Arbeitslose nicht mehr zwingen wollen, Arbeit aufzunehmen“, war er von den Zeitungen der Funke Mediengruppe gefragt worden. Seine Antwort: „Das ist keine gute Idee.“

Der DGB-Chef als Befürworter eines Zwangs zur Arbeitsaufnahme? Das hatte auch in Gewerkschaftskreisen für einigen Unmut gesorgt. Doch Hoffmann fühlt sich missverstanden. Aus gewerkschaftlicher Sicht müsse es darum gehen, „Menschen die Chance zu geben, in Erwerbsarbeit zu kommen, und ihnen nicht eine Prämie anzubieten, die sie von Erwerbsarbeit frei hält“, sagte er jetzt. Deswegen sei es wichtig, sich die Intention der verschiedenen Vorschläge zur Überwindung von Hartz IV genau anzuschauen. Das habe er nur deutlich machen wollen.

Gleichwohl würden die Gewerkschaften „das System von Sanktionen im Hartz-IV-Bereich massiv kritisieren“, beteuerte Hoffmann. Er habe da auch persönlich „eine ganz klare Haltung“ und liege in dieser Frage mit dem Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck „auch gar nicht groß auseinander“. Habeck hatte in einem Strategiepapier in der vergangenen Woche für eine Grundsicherung ohne Arbeitszwang und Sanktionen plädiert.

Die aktuelle Diskussion über Hartz IV sei „nur zu begrüßen“, sagte Ver.di-Chef Bsirske. Das Ziel müsse ein sanktionsfreies, bedarfgeprüftes und auskömmliches Mindestsicherungsniveau sein. Erforderlich sei ein deutlicher Anstieg der Regelsätze. Ablehnen würden die Gewerkschaften demgegenüber ein Sanktionssystem, das die Menschen unter das Existenzminimum treibe. Da Hartz IV inklusive des Wohngelds genau dieses Existenzminimum abbilden soll, „kann es nicht gekürzt werden“, sagte Bsirske entschlossen – und unter kräftigem Kopfnicken Hoffmanns.

DGB-Index „Gute Arbeit“ vorgestellt

Eigentlicher Anlass für das gemeinsames Erscheinen von Hoffmann und Bsirske vor der Bundespressekonferenz am Donnerstag war die Vorstellung des diesjährigen DGB-Index „Gute Arbeit“, einer seit 2007 durchgeführten repräsentativen Umfrage unter Beschäftigten in Deutschland zu ihren Arbeitsbedingungen.

45 Prozent der Beschäftigten erwarten, dass ihre Rente nicht ausreichen wird

Das zentrale Ergebnis der Befragung: Trotz positiver Konjunktur und guten Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt bewerten die befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitsbedingungen kritisch.

Demnach identifizieren sich zwar 84 Prozent der Beschäftigten in hohem oder sehr hohem Maße mit ihrer Arbeit. Gleichwohl halten 45 Prozent ihr Einkommen für gar nicht oder nur in geringem Maße angemessen. 37 Prozent fühlen sich nicht rechtzeitig genug über Entscheidungen, Veränderungen oder Pläne informiert, die für sie oder ihre Arbeit wichtig sind. Fast jede und jeder Dritte klagt darüber, dass oft verschiedene Anforderung in sie oder ihn gestellt werden, die schwer miteinander zu vereinbaren sind. Sehr häufig oder oft am Wochenende müssen 28 Prozent arbeiten.

52 Prozent der Beschäftigten sehen sich sehr oft oder oft bei der Arbeit gehetzt und unter Zeitdruck gesetzt. „Psychische Belastungen und Arbeitsstress haben durch den digitalen Wandel zugenommen“, sagte Hoffmann. Notwendig sei eine Trendumkehr: „Wir brauchen eine humane Arbeitsgestaltung, die den Gesundheits- und Arbeitsschutz stärkt und die Beschäftigten entlastet.“

Große Sorgen machen sich viele um ihre Alterssicherung. 45 Prozent der Beschäftigten erwarten, dass ihre Rente nicht ausreichen wird, 36 Prozent gehen davon aus, dass sie nur „gerade so“ reichen wird. Das seien die bisher höchsten gemessenen Werte, sagte Hoffmann. „Wir müssen das Vertrauen in die Altersvorsorge wiederherstellen“, forderte er. Das Rentenpaket der Bundesregierung könne hier nur ein „erster Schritt“ sein, notwendig seien „weitere Maßnahmen, die das Rentenniveau anheben und den Sinkflug der gesetzlichen Rente dauerhaft stoppen“.

Arbeit von Menschen an Menschen im Fokus

Ein besonderes Augenmerk legt der DGB-Index diesmal auf die Interaktionsarbeit, also die Arbeit von Menschen an anderen Menschen. Immerhin 63 Prozent aller ArbeitnehmerInnen arbeiten regelmäßig mit KundInnen, PatientInnen oder KlientInnen. „Dies stellt hohe Anforderungen an ihre sozialen und emotionalen Fähigkeiten, etwa bei der Kindererziehung oder der Alten- und Krankenpflege“, sagte Bsirske. „Fakt ist aber, dass ausgerechnet diese gesellschaftlich wichtigen Tätigkeiten zu geringe Wertschätzung erfahren.“

Dabei ist die große Mehrzahl der in diesen Bereichen Beschäftigten überzeugt, mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten: Mit 74 Prozent liegt hier der Anteil derjenigen, die ihre Arbeit in hohem oder sehr hohem Maße für gesellschaftlich nützlich halten, weitaus höher als bei den Erwerbstätigen mit wenig oder keinem KundInnenkontakt (57 Prozent).

Allerdings haben etliche der interaktiv Arbeitenden oft belastende Erlebnisse – vom Gefühl, nur unzureichend helfen zu können, über das Miterleben von Krankheit oder Elend bis hin zu tätlichen Angriffen etwa auf MitarbeiterInnen des öffentlichen Dienstes. Von solchen Erlebnissen sind insgesamt 17 Prozent der Beschäftigten sehr häufig oder oft betroffen. Besonders hoch ist der Anteil im Sozialwesen mit 41 Prozent.

„Am deutlichsten wird die fehlende Wertschätzung bei der Bezahlung“, sagte Bsirske. So empfänden 78 Prozent der Befragten ihr Einkommen bei den durchweg hohen Anforderungen an ihre Tätigkeit mit Menschen als zu gering. Nötig sei eine deutliche Aufwertung dieser Berufe und Tätigkeiten, eine den Aufgaben angemessene Personalausstattung und eine erheblich bessere Bezahlung.

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