Gewalt gegen Flüchtlinge: Grenz-Erfahrungen
In hunderten Fällen berichten Flüchtlinge von Misshandlung und Gewalt an der Grenze in Kroatien. Alles Lügen, sagen dazu kroatische Behörden.
Sintic hat drei Kollegen dazugebeten, im Halbkreis stellen sie sich am Straßenrand auf, in ihren blauen Uniformen, die ein wenig zu dünn sind für den Morgenfrost, und Sintic erzählt den Parlamentariern davon, wie die Lage hier so ist: Fast 1.200 Kilometer lang ist hier, in Kroatien, die Außengrenze der EU. Sie zieht sich durch grüne Hügel und Felder, es ist nicht mehr weit bis nach Österreich und Italien. Sintic’ Leute haben allein im letzten Jahr über 20.000 Menschen aufgegriffen, als sie diese Grenze überquert haben. „Die meisten kommen aus Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak und Syrien“, sagt Sintic.
Die Frage ist: Was passiert mit denen?
Das wollen die Abgeordneten wissen, die an diesem Morgen hergekommen sind. Die Niederländerin Tineke Strik (Grüne) hatte Sintic’ Chef, dem kroatischen Innenminister Davor Božinović, geschrieben, ihr Besuch werde einen „Fokus auf mögliche Menschenrechtsverletzungen“ an der Grenze haben.
„Folterähnliche Polizeitaktiken“
Denn seit Jahren weist die UN-Flüchtlingshilfe UNHCR darauf hin, dass Sintic’ Leute ganz offensichtlich jene, die sich hier in der Hoffnung auf Asyl in Europa durch die Büsche schlagen, zurück nach Bosnien prügeln. Im Dezember 2019 legte die Nichtregierungsorganisation Border Violence Monitoring Netwok eine Dokumentation von über 600 einzelnen Fällen vor. Darin ist von „folterähnlichen Polizeitaktiken“, Hundebissen, angedrohtem Erschießen und allen denkbaren Formen von Gewalt die Rede.
Mehrfach kamen in den letzten Jahren an Kroatiens Grenzen Menschen ums Leben. Im November 2019 musste Kroatiens Innenminister Božinović einräumen, dass im Krankenhaus von Rijeka ein Afghane notoperiert wurde, nachdem er „aus Versehen“ durch den Gewehrschuss eines Polizisten schwer verletzt wurde. Auch Fernsehsender zeigten mit versteckter Kamera im Wald aufgenommene Videos von den Aktionen, Pushbacks genannt.
„Außer den kroatischen Behörden leugnet niemand die illegalen Abschiebungen“, sagt der EU-Abgeordnete Erik Marquardt (Grüne). Doch die EU unternimmt nichts. Zu groß ist offenbar die Angst vor einer neuen offenen Balkanroute. Die Delegation ist hergekommen, um Božinović, den Innenminister, und Sintic, den Polizeikommandanten, mit dem Vorwurf zu konfrontieren, sie verletzten massenhaft EU-Recht, um die Grenze der EU zu schützen. Denn Kroatien ist nach internationalem Recht dazu verpflichtet, Ankommenden die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen.
„Ich weiß, dass unser Minister ihnen das ja gestern auch schon gesagt hat“, sagt Sintic, als er nach den Menschenrechtsverletzungen gefragt wird. Und dann sagt er den Abgeordneten aus Brüssel genau dasselbe wie Božinović: Alles Lüge.
Beamte beschuldigen die Migranten
„Bei uns gibt es null Toleranz für so ein Verhalten“, sagt Sintic, „Immer, wenn wir so etwas hören, formen wir ein Team, direkt vom Ministerium, die das untersuchen.“ Er kenne die Berichte, doch „wir konnten das nie verifizieren“.
Kroatischer Grenzpolizist, über die Methode, Migranten zurückzuweisen
„Ich hab viele Verletzte drüben in Bosnien gesehen“, sagt ein Journalist aus Österreich, der die Abgeordneten begleitet.
Einer von Sintic' Kollegen meldet sich zu Wort. „Können Sie sich vorstellen, dass wir so einen Befehl geben, die Migranten zu verprügeln?“, fragt er.
„Irgendwer muss sie ja verprügelt haben“, sagt der Journalist.
„Wenn wir Hinweise haben, dass ein Beamter seine Befugnisse über das erforderliche Maß hinaus nutzt, wird er bestraft oder entlassen“, sagt der Grenzer.
„Es gibt Tausende Aussagen von Migranten. Und sie haben keinen einzigen solchen Fall gefunden?“, hakt eine der Abgeordneten nach.
„Kürzlich gab es einen jungen Afghanen“, sagt der Grenzpolizist dann, „dessen Bein wurde mit einem Stahlrohr verletzt. Alle Medien schrieben, wir waren das. Dann fanden wir heraus, dass der Afghane seinen Schlepper nicht bezahlen konnte – und der ihn verletzt hat.“ Ähnlich ein junger Pakistaner, dem die Beine verbrannt wurden. „Der schuldet den Schmuggler Geld, die haben ihn ins Feuer gestoßen.“
Sintic ergänzt: „Drüben in Bosnien, da gibt es Gewalt unter den Flüchtlingen, zwischen Marokkanern und Algeriern zum Beispiel.“ Die verletzten sich gegenseitig. „Und dann werden später Bilder von den Verletzten gezeigt, um politischen Druck aufzubauen, damit wir die Grenzen aufmachen.“
„Gut“, sagt einer der Abgeordneten. „Sie verprügeln sie also nicht. Aber was machen Sie dann?“
„Wir verhindern, dass sie illegal die Grenze überqueren“, sagt der Polizist.
„Wie muss man sich das vorstellen?“, will der Abgeordnete wissen.
„Wie stehen da und sie sehen uns. Das reicht. Dann kehren sie von allein um.“
Die Fahrt der Gruppe mit dem kleinen schwarzen Bus geht weiter, entlang am Grenzfluss Korana, über die Grenze nach Bosnien, durch hügeliges Ackerland bis ins 40 Kilometer entfernte Bihać. 7.000 Flüchtlinge sitzen in dem Nachbarland Kroatiens fest, die meisten in der Region Bihać. In den Straßen sieht man immer wieder Gruppen von Flüchtlingen, in der Hand Plastiktüten mit Decken, und Schlafsäcken, auf dem Weg Richtung Grenze. „The Game“ nennen sie es hier, „das Spiel“.
„Alle auf die gleiche Weise geschlagen“
Selena Kozakijević vom Dänischen Flüchtlingsrat ist im Auftrag der EU-Kommission in Bihać. „Wenn die Menschen von der Grenze zurückkommen, sehen wir manchmal, dass sie alle die gleiche Wunde auf dem Kopf haben. Sie wurden offensichtlich alle auf gleiche Weise geschlagen“, sagt sie. In einer Pizzeria hat Kozakijević für die Abgeordnetengruppe ein Treffen mit drei Männern organisiert. Einer ist Omar Korshan, 35, er stammt aus Tataouine im Süden Tunesiens und will zu Verwandten in Frankreich. Seit einem Jahr ist er in Bihać, zwölfmal wurde er zurückgeschickt, sagt er.
Es seien nicht immer dieselben gewesen: Immer wieder sei er in Kroatien aufgegriffen worden, mal von Soldaten, mal von Polizisten. „Mal haben sie uns alles weggenommen, auf einen Haufen gelegt und angezündet“, berichtet Korshan. Ein anderes Mal hätte die Polizei Hunde auf die Gruppe gehetzt, die sie gebissen hätten. „Sie fragen dich: ‚Kommst du nochmal her?‘ Ich sage Nein, und es gibt Schläge. ‚Kommst du nochmal?‘ Nein! ‚Schläge.‘“ Meist seien ihnen die Schuhe abgenommen worden, teils hätten Grenzer ihnen angedroht, sie zu erschießen.
Die EU hat in Bihać eine alte Fabrik und ein ehemaliges Schülerwohnheim gemietet, als Notunterkunft für die Flüchtlinge. „Die Pushbacks finden statt“, sagt Nicolas Bizel, der Operationschef der EU-Delegation in Bosnien. 2019 hat der UNHCR in Bosnien allein 6.000 Fälle erfasst.
François Giddey betreibt für Ärzte ohne Grenzen in der Region eine mobile Klinik. Viele, mit denen die kroatische Grenzpolizei fertig ist, kommen zu ihm. „Gebrochene Füße, Arme und Beine“ seien häufige Verletzungen, die er zu sehen bekommt, sagt Giddey. Die Menschen kämen mit Wunden an den Stellen, an denen die Polizeiknüppel sie getroffen hätten, andere seien unterkühlt, weil die Polizei sie mit dem Gewehr im Anschlag gezwungen habe, eine Stunde im Fluss zu stehen. Ein Flüchtling sei mit einer verbrannten Hand zu ihm gekommen. „Er sagte, so wollte die Polizei ihn zwingen, seine Geldkartennummer zu verraten.“
Kroatien wartet auf die Schengen-Mitgliedschaft
Das Elend und die Gewalt, denen die Flüchtlinge in Bihać ausgesetzt sind, hat einen politischen Hintergrund. Seit 2013 ist Kroatien EU-Mitglied. Doch in die Schengen-Gemeinschaft wurde Kroatien bislang nicht aufgenommen. Das geschieht erst, wenn die Schengen-Innenminister davon überzeugt sind, dass das Land seinen Grenzschutz im Griff hat. „Ich hoffe, dass die Politik unsere Anstrengungen anerkennt, die europäischen Grenzen zu sichern“, sagt der Polizeikommandant Sintic dazu.
Doch trotz der Gewalt, von der die Flüchtlinge, die UN, die EU und Nichtregierungsorganisationen berichten, ist die Zahl der irregulären Grenzübertritte von 2018 auf 2019 um 158 Prozent gestiegen. Kroatien fürchtet deshalb, dass es dem Land ergehen könnte wie den EU-Mitgliedern Bulgarien und Rumänien – die warten schon seit 13 Jahren auf den Schengen-Status.
Natasha Omerović leitet für die UN-Migrationsorganisation IOM das Aufnahmezentrum für Familien und unbegleitete Minderjährige. Der Jüngste hier ist zwölf Jahre alt. Früher war es ein Wohnheim für GymnasiastInnen aus der Provinz, heute sitzen im Hof Flüchtlinge mit verbundenen Füßen oder Armen. „Jeder, der hier ist, hat es mehrfach versucht“, sagt Omerović.
Von hier sind es nur sechs Kilometer bis zur Grenze.
Die Reisekosten trug die Fraktion Grüne/EFA des Europäischen Parlaments.
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