Gesundheitsversorgung für Geflüchtete: Kranke sollen zum Arzt gehen können
Bremen will in einem Modellprojekt Behandlungsscheine für Papierlose ausgeben. Damit ist die Stadt weiter als andere – aber Geld gibt's nur bis 2023.
Beschlossen haben SPD, Grüne und Linke in der Bremischen Bürgerschaft diese Initiative bereits 2019 – umgesetzt wird sie gleichwohl erst jetzt. Jedoch ist das Projekt befristet, bis Ende des kommenden Jahres, und auf die Stadt Bremen beschränkt; Bremerhaven bleibt außen vor.
Die geschätzten Kosten von 1,45 Millionen Euro werden aus dem Bremen-Fonds beglichen, der dazu da ist, mit 1,2 Milliarden Euro die Folgen der Pandemie abzumildern. Und die habe „den besonderen Bedarf der Zielgruppe noch einmal verschärft“, sagt der Senat: Wer aus Sorge vor den Ausländerbehörden nicht zu Ärzt:innen geht, riskiert einen schwereren Verlauf einer Corona-Infektion.
Genaue Statistiken gibt es zwar nicht, „groben Schätzungen“ der Landesregierung zufolge liegt die Zahl der Nicht-Krankenversicherten aber allein im Land Bremen „im kleinen vierstelligen Bereich“. Und nicht nur das Grundgesetz, auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder der UN-Sozialpakt kennt ein Recht auf Gesundheit.
Ursprünglich wollte Bremen in Zusammenarbeit mit der örtlichen AOK ja eine anonyme Gesundheitskarte einführen – das gehe aber nicht, weil dafür die rechtliche Grundlage im Sozialgesetzbuch fehle, so der Senat. Und das wiederum ist Bundesrecht. Deshalb soll es nun Behandlungsscheine geben, die Betroffenen den Zugang zu ärztlicher Versorgung sichern soll und die „bei Bedarf“ auch pseudonymisiert ausgestellt werden sollen.
Bisher gab es nur die Humanitäre Sprechstunde in den Räumen des Gesundheitsamtes, die zwar kostenlos ist, aber nur zwei Stunden pro Woche erreichbar ist und auch nur eine „Basisversorgung“ anbieten kann. Selbst der Senat findet das „nicht ausreichend“ und muss zugeben, dass die Angst der Betroffenen vor einer möglichen Meldung bei anderen Ämtern mitunter verhindert, dass sie diese Humanitäre Sprechstunde aufsuchen.
„Mit diesem Modellprojekt wird der dringend notwendige Zugang zur medizinischen Versorgung für alle gewährleistet“, sagt Marc Millies von Refugio. Er fordert zugleich „die Einbeziehung qualifizierter Sprachmittlung“ in das Projekt, weil sie „eine weitere Hürde in der Diagnostik und medizinischen Behandlung darstellen kann“.
Träger des Projekts ist ein im April gegründeter „Verein zur Förderung der gesundheitlichen und medizinischen Versorgung nichtversicherter und papierloser Menschen in Bremen“ (MVP), der schon eine Website hat, die gerade online ging, aber wie das restliche Angebot noch im Aufbau ist.
„Das ist eine erhebliche Verbesserung“, sagt Gundula Oerter vom Bremer Flüchtlingsrat – denn der MVP ermöglicht Papierlosen auch den Zugang zu Fachärzten. Für sie ist der Modellversuch zwar „eine gute Lösung“ – aber „nicht die beste: die Integration aller in die reguläre Gesundheitsversorgung.“
Die nächste Landesregierung entscheidet neu
Problematisch könnten Krankheitsfälle werden, die eine spezialisierte, langwierige und damit teure Behandlung erfordern – für das laufende Jahr sind die Behandlungskosten auf 400.000, für das kommende Jahr auf 700.000 Euro geschätzt worden. Und eine Perspektive für die Folgejahre hat das Projekt bisher gar nicht – das ist Sache der neuen Landesregierung, die 2023 gewählt wird.
Geflüchtete erhalten Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, je nach Bundesland oder Kommune ist das entweder ein Krankenschein, der drei Monate gilt, oder eine elektronische Gesundheitskarte. Erst nach 15 Monaten kommen sie in die reguläre Gesundheitsversorgung. Aus Sicht des Flüchtlingsrats sei das ein „verfassungswidriger“ Zustand, sagt Oerter, die vehement eine Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes fordert.
Initiativen für Papierlose, wie sie Bremen jetzt hat, gebe es „in wenigen anderen Städten“, so Oerter – Bremen orientiert sich nach eigenen Angaben an einem Modell aus Thüringen. Im November eröffnete in Bonn der Verein „Anonymer Krankenschein Bonn“ eine Anlaufstelle, ähnliche Modelle in Göttingen und Hannover waren laut des „Informationsportals von Medibüros/Medinetzen“ 2018 ausgelaufen.
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